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Wahr

Wahr

Titel: Wahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Riikka Pulkkinen
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Jahre in den Ohren nachklingen werden. Sie hallen durch ferne Unterwasserwelten, auch dann noch, wenn ich schon bei den Fischen und nicht mehr da bin.

25.
    IHRE MUTTER SAH klein aus.
    Ihr Geist oder ihre Seele, das, was sie ausgemacht hatte, musste sehr groß gewesen sein, denn nun wirkte sie beinahe wie eine Puppe. Eleonoora hätte sie am liebsten auf den Schoß genommen. Sie ging näher, streichelte sacht die runzlige Hand. Ihr Blick wanderte all die vertrauen Stellen entlang, das Muttermal am Hals, die Narbe am Unterarm, die ihre Mutter schon viele Jahre hatte. Ein Regalbrett war aus dem Geschirrschrank gefallen, als sie nach der Vase ganz oben getastet hatte. Eleonoora war nach dem lauten Knall erschrocken in die Küche gerannt, vor ihr stand ihre verdutzte Mutter, lachte noch, bis sie das Blut fließen sah. Die Wunde musste mit zehn Stichen genäht werden. Die Narbe war auch heute noch gut zu sehen, ein blasser Strich vom Handgelenk bis zur Armbeuge. Eleonoora war die Linie oft mit dem Zeigefinger entlanggefahren, hatte sich den Arm ihrer Mutter auf den Schoß gelegt und die Narbe gestreichelt. Wie verletzlich die starke Mama ist, hatte sie gedacht. Sie hatte begriffen, dass die Haut ihrer Mutter genauso dünn war wie ihre, dass ihre Mutter nicht unzerstörbar war. Deshalb wollte sie ihre Mutter mit ihrem Streicheln heilen. Und genau das tat sie jetzt, streichelte ihre Mutter, als wäre sie am Leben. Sie war noch beinahe dieselbe, erst ein klein wenig anders. Behutsam, fast ohne echte Berührung führte Eleo­noora den Zeigefinger über den Arm. Das ist das letzte Mal, dachte sie.
    Eleonoora hatte eine Wollweste für ihre Mutter gestrickt. Sie sah zu Anna und Maria, nickte ihnen zu: Lasst uns anfangen. Sie wollte ihre Mutter unbedingt selber waschen, ihre Füße massieren, die Nägel säubern und Lavendelöl auf ihre Handgelenke tupfen. Ihre Mutter hatte sie als Kind Hunderte Male gewaschen und mit einem Frotteehandtuch abgerubbelt. Danach hatte sie eine Decke um sie gewickelt und »mein Bündelchen« zu ihr gesagt. Das war ihr gemeinsames Wort, das vertrauteste, das Eleonoora kannte. Ihre Mutter hatte sie über den Hof getragen, ihre schöne Haut war von der Sauna noch leicht feucht. Eleonoora hatte den warmen Hals ihrer Mutter an ihrer Wange gespürt. Auf einmal blieb ihre Mutter stehen, hörte der Nachtigall zu. Sie schlief fast auf ihrem Arm ein, roch das gute Lavendelöl.
    Oder war es doch Eeva gewesen? Vielleicht war es in Wahrheit Eeva.
    Anna griff nach dem weißen Gewand und sah unsicher zu ihr und Maria. Gemeinsam streiften sie das Gewand über den blassen Körper, der für einen Moment aussah wie der einer Konfirmandin. Dann kamen die Strümpfe. Und die Wollweste. Feines hellblaues Angoragarn, Seidenbänder zum Zuschnüren. Vorsichtig hob Eleonoora den Kopf ihrer Mutter, er war noch immer schwer. Sie schob die Arme durch die Ärmel, nun würde sie die Narbe nicht mehr sehen. Es fehlten noch die Wollsocken. Sie waren aus demselben Garn wie die Jacke, ein wenig dünn, aber ihre Mutter würde schon nicht frieren. Anna streifte den einen Socken über, Maria den anderen.
    »Großmutter hat kleine Füße«, sagte Anna.
    »Stimmt«, erwiderte Eleonoora.
    Ein gutes Gefühl, dass ihre Tochter sagte: »hat«. Nicht: »hatte«. Sobald Anna und Maria nach Hause gingen, über Blumengestecke und Kuchen nachdächten, würden sie schon sagen: »hatte«. Sie würden sagen: »Großmutter mochte Zitronenbaisertorte, sie mochte Lilien, und Rosen mochte sie am liebsten.«
    Sie legten die Decke über Eleonooras Mutter, falteten die kühlen Hände. Der Ehering fehlte. Ob Eleonooras Vater ihn an sich genommen hatte? Die Spur des Rings war klar zu erkennen. Auch ihr Vater musste sie gesehen haben, als er den Ring abgestreift hatte.
    »Willst du allein sein?«, fragte Maria.
    »Nein«, sagte sie. »Es ist gut, mit euch hier zu sein.«
    Sie standen still da und ließen die Zeit vergehen. Maria nahm ihre Hand, Anna nahm die andere.
    »Tschüs, Großmutter«, sagte Anna.
    Maria wiederholte es.
    Sie selbst sagte: »Tschüs, Mama.«
    Sie warteten noch ein wenig.
    Dann fragte Anna: »Sollen wir jetzt den Sarg schließen?«
    »Ja«, sagte Eleonoora.
    Sie legten den Deckel obenauf; es fühlte sich nicht mehr schlimm an. Anna und Maria sahen zu ihr.
    Sie schwieg. »Wir können gehen«, sagte sie schließlich. »Wir haben alles getan.«
    Als sie auf die Straße traten, wehte ihnen ein warmer Wind entgegen. Der Sommer war da. Anna und

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