Wahr
vertrautes Geräusch, nasses Schaben. Die ganze Zeit über hat das Geräusch hier existiert, ich hatte es nur vergessen. Aber womöglich bin ich gar nicht fort gewesen, habe mir das nur eingebildet. Was in den hohen Räumen des Hauses mit den Kastanien vor den Fenstern passiert ist, war das Leben einer anderen. Es war ein Traum.
Assi genießt die Bürstenstriche, schlägt mit ihrem Schwanz hin und her. Meine Mutter ist fertig mit ihrer Arbeit und schaut zu mir, sagt nicht, dass meine Bewegungen zu schwach sind, obwohl sie es denkt. Sie redet von allem Möglichen anderen und weiß, dass ich nicht antworten kann. Seufzend hält sie sich den Rücken. Ich sehe sie als alte Frau. Noch Jahrzehnte werden vergehen, ehe sie stirbt, zwischen weißen Laken. Ihre Haut ist dann schon dünn geworden, doch davon werde ich nichts wissen. Sie lehnt sich auf den Schrubber, ihr Blick wandert über die Rücken der Kühe, wohlwollend, aber ein wenig matt, als wären die Tiere eine mühsam erworbene Briefmarkensammlung von geringem Wert, deren Nutzlosigkeit meine Mutter bisher nicht erkannt hat. Sie klopft Assi aufs Hinterteil.
»Ach ja, das liebe Vieh. Und jetzt kochen wir Kaffee. Dein Vater ist bestimmt auch schon mit der Arbeit fertig.«
Ich folge ihr über den Hof. Die feuchten Gräser liegen platt am Boden, Riepu zerrt an seiner Kette, bellt aufgebracht. All dies hat die ganze Zeit existiert. Doch während meiner Abwesenheit, als ich mir etwas anderes einreden wollte, hat es sich in ein Museum verwandelt, in dem meine Eltern nun umherwandern wie erschöpftes, aber demütiges Wachpersonal. Es war eine andere Welt gewesen, in der sich Tropfen auf Grashalmen sammelten und wir beim Glockenschlag zur Schule rannten, unsere Zöpfe bei jedem Schritt auf unsere Rücken trommelten und uns ermunterten, die Welt da draußen zu erkunden, von der im Radio die Rede war, die weit fort existierte.
Mein Vater schaut Fernsehen, sitzt ganz nah am Bildschirm. Er sieht besorgt aus. Das Gerät bleibt an, während wir den Abendkaffee trinken, uns dicke Stücke vom Hefezopf schneiden. Meine Mutter bestreicht ihres mit Butter, tunkt es in den Kaffee. Die Welt ist ein kleines flackerndes Quadrat in der Ecke. Dort trägt jemand ein Tuch um die Stirn und ruft Parolen mit einer solchen Andacht und Konzentration, als habe er lange auf seinen Auftritt beim Schultheater warten müssen. Wir hören die Parolen nicht, die Schlagworte dringen nicht zu uns vor, zu den geblümten Vorhängen und Geranien und der Wachstuchdecke auf dem Tisch, denn draußen bellt Riepu, mein Vater öffnet das Fenster, brüllt: »Ruhe dahinten, ist doch alles gut!«
Meine Mutter sagt: »Geh ruhig wieder in die Sauna. Gib Teer-Aroma und Birkenblätter ins Aufgusswasser und Sumpfrosmarin ins Waschwasser. Damit kriegen wir vielleicht deine Krankheit weg, und deine Stimme kommt zurück.«
Ich nicke.
»Gehst du allein?«
Ich nicke.
»Aber schwimmen darfst du noch nicht, sonst wird es nachher wieder schlimmer.«
Wieder nicke ich. Nein, ich werde nicht schwimmen gehen.
Abend. Der Himmel ist rosa, sieht aus wie eine leicht geneigte Fläche. Ich gieße Aufgusswasser auf die Steine. Der Dampf umschmeichelt meine Beine, ich bin glücklich wie als Kind.
Durchgewärmt stehe ich auf, öffne die Tür. Gehe den schmalen Pfad zum Ufer. Ich denke an das Bündel Mensch, das ich mitten in den Unruhen im Fernsehen gesehen habe. Wie friedlich. Ich denke an Assi und ihr Kalb. Ich denke an den Mann, der in diesem Moment den Blick aus seiner Zeitung hebt und zu Elsa sagt: »Jetzt wird alles anders. Die denken, sie können das mit Panzern aufhalten, dabei hat es längst angefangen.« Elsa küsst ihn. »Wenn du das sagst, glaube ich es«, erwidert sie ohne jedes Spötteln – ihre Stimme ist reine Zärtlichkeit.
Ich denke an das Mädchen. Es hat mich schon vergessen, so wie Kinder ihre Wunden vergessen. Ich denke an Katariina; sie ist in Berlin und lacht gerade mit Lies in deren Küche, sie braten Eier, da nichts anderes im Kühlschrank war, und überlegen, was sie abends unternehmen können. Aber das werde ich nicht erfahren. Ich denke an meine Mutter, meinen Vater und Liisa. Und wieder an das Mädchen, den Mann, sogar an Elsa.
Ich wate ins Wasser.
Es ist schönes Wetter, in unseren Träumen, in den Worten und im Tod.
Schon reicht das Wasser bis an meine Knie, bis an meine Hüfte. Unter der Oberfläche ist Ruhe, die Welt der Fische, hier gibt es keine Stimmen. Nur die Worte, die dem Mädchen noch
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