Wahr
du erfrierst.«
»Willst du es mir verbieten?«
»Nein«, sagt er lächelnd, »will ich nicht.«
Ich ziehe meinen Rock aus. Die Bluse. Ich sehe ihn nicht an, als ich den BH ablege.
Er denkt: Ich kriege den Blick nicht von ihr los. Es ist alles längst entschieden, als hätte jemand anderes das an unserer Stelle getan, als wäre dies nur die unausweichliche Aufführung eines Theaterstücks, mit dem die Zukunft realisiert wird. Ich gehe ins Wasser, es ist kalt. Ich gebe keinen Laut von mir. Ich gehe weiter, bis mir das Wasser zum Bauchnabel reicht, dann tauche ich ein, schwimme.
Der See ist seltsam ruhig, die Wolken am Himmel se hen aus wie dunkle Flecken auf heller Haut. Ich schwimme fünf Züge, wende, schwimme fünf zurück, steige aus dem Wasser.
»War es kalt? Deine Lippen sind blau.«
»Dann werde ich mich wohl aufwärmen müssen.«
Er hält mir ein Handtuch hin, als wolle er mich umarmen. Vertrauensvoll stelle ich mich vor ihn. Er lässt das Handtuch los, ich rubbele mich trocken. Konzentriert starrt er auf das Muttermal an meinem Hals, bannt alles, was er eben gesehen hat, in diesen Punkt.
Sein Atem bebt ein wenig. Ich zittere vor Kälte, vielleicht auch vor Erwartung.
»Möchtest du rein?«, fragt er.
Als wir uns in Richtung Haus bewegen, ist Elsa noch zwischen uns. Während wir über das Grundstück gehen, denkt er darüber nach, was Elsa an meiner Stelle sagen würde. Sie würde etwas über das Mädchen sagen. Sie wäre müde, würde sich den Nacken reiben und sagen: Ich schau noch mal nach unserer Kleinen. Danach würde sie zerstreut in die Küche gehen, laut darüber nachdenken, ob sie noch ein Abendbrot zubereiten soll. Kein schlechter Tag, würde sie sagen.
Ich erkenne seine Zweifel an der Haltung seiner Schultern. Aber Elsa wird bereits zu einem Bild. Sollte das Telefon geklingelt haben, dann hat es Dutzende von Kilometern entfernt in Töölö geklingelt, wir können es bis hier nicht hören. Aus meinen Haaren tröpfelt Wasser. Die Wände schützen uns, die Nacht beschirmt uns. Alles hat längst angefangen, fing an in dem Moment, als ich geklingelt habe, als ich über die Schwelle trat. Vielleicht sogar noch viel früher. Alles ist vertraut und alt wie die Zeit. Und auch der Kuss ist zugleich uralt und neu. Seltsam, direkt davor habe ich etwas über Elsa gesagt.
Elsa isst an diesem Abend mit Kollegen in einem Restaurant und lacht. Bevor sie sich schlafen legt, dehnt sie Nacken und Schultern, schlägt die Tagesdecke zur Seite und setzt ihre Lesebrille auf, überfliegt noch einmal die Notizen für den Vortrag am nächsten Tag. Wir wissen an diesem Abend nichts von ihr. Sie ist weit weg, nur für eine kurze Weile zwischen uns. Wir stehen einander gegenüber, sehen uns in die Augen. Ich denke an Elsa, als er einen Schritt auf mich zugeht. Ich denke an Elsa und frage: »Küsst sie dich abends, wenn ihr schlafen geht?«
In seinem Blick flackert noch einmal Zweifel auf, ich kann ihn sehen, aber dann sagt er »psst« und kommt noch näher, und wir sprechen nicht mehr.
10.
INDUKTION, INTUBATION, EXTUBATION .
Sie waren gerade in der Phase der Intubation. Der Patient lag in tiefer Narkose vor ihnen; Eleonoora nähte die letzten Stiche. Die OP verlief unkompliziert, ein Routineeingriff. Riitta, mit der Eleonoora am liebsten arbeitete – eine lächelnde, etwas verschrobene, aber mit leidenschaftlichem Eifer auf ihre Arbeit konzentrierte Anästhesistin –, überwachte den Zustand des Patienten, verringerte die Dosis und nickte Eleonoora wohlwollend zu: Ja, es war Zeit, die OP mit den letzten Stichen abzuschließen.
Noch immer, nach zwanzig Jahren im Operationssaal, staunte Eleonoora über das Mysterium des künstlichen Schlafs. Dabei verfolgte sie es täglich, kannte seine von Gelingen und Irrtum geprägte medizinische Geschichte. Und doch wusste niemand mit Bestimmtheit, wie der Mechanismus dieses Schlafes funktionierte. Man wusste nur, dass bestimmte Mittel Bewusstlosigkeit und Gefühllosigkeit auslösten und man in diesem Zustand operieren konnte. Die benötigten Dosen wussten jedoch selbst erfahrenste Anästhesisten nicht vorherzusagen. Was manche in eine tiefe Narkose versetzte, beförderte andere nur in das Grenzgebiet zwischen Wachen und Dösen. Die meisten bekamen nicht mit, was während der Narkose ablief, einige wenige dagegen blieben bei Bewusstsein und erzählten, dass sie dem Eingriff wie von außen zusehen konnten, auch dem Schnitt in die Haut.
Eine Patientin hatte Eleonoora
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