Wahr
nichts anzuziehen.«
»Stimmt nicht, du hast das schöne Kleid, das ich dir im Mai gegeben habe.«
Ich trage Elsas Kleid. Mit unsicheren Schritten gehe ich auf das Haus zu. Schon an der Tür ist gellendes Gelächter zu hören. Ich sehe schmale Krawatten, Schuhe mit hohen Absätzen, Bienenkorbfrisuren, glockige Röcke, falsche Wimpern, Zigaretten. Ich schaue suchend durchs Zimmer, wo ist das Mädchen? Wo ist der Mann, wo ist Elsa? Schließlich entdecke ich das Mädchen, es spielt mit einem gleichaltrigen Kind hinter dem Sofa.
Und er? Er steht vor einem geöffneten Fenster, hat ein Glas in der Hand und spricht mit einem Freund, lacht. Er entdeckt mich im Gewimmel, schaut rasch wieder weg. Ich kann sehen, dass er dieselben Dinge gedacht hat wie ich.
Dann kommt Elsa auf mich zu. Sie hat ihre Haare hochgesteckt, ist glücklich und entspannt – ihre Sachlichkeit hat sie für diesen Abend in ein Hinterzimmer verbannt. Sie umarmt mich und will etwas sagen, wird aber schon von der nächsten Begegnung abgelenkt, einer mir unbekannten Frau, so bleibt ihr Satz unvollendet.
Ein Mann kommt auf mich zu, stellt sich mir vor. Wir sprechen über Lyrik, aber ich kann mich nicht recht konzentrieren. Ich will das Mädchen begrüßen, will hören, was es in den letzten Wochen erlebt hat. Ich möchte mit ihm spielen.
»Ella! Hallo!«, sage ich und gehe in die Knie, so dass unsere Köpfe fast auf gleicher Höhe sind.
Sie trägt Lackschuhe und ein Kleid mit gestärktem Kragen. »Spielen wir?«, fragt sie.
Ohne meine Antwort abzuwarten, nimmt sie meine Hand, marschiert los, führt mich durch die vielen Menschen hindurch zu ihrem Zimmer, reckt sich nach der Klinke und öffnet die Tür.
Es ist schummrig.
»Licht anmachen«, befiehlt sie.
Ich taste nach dem Schalter, finde ihn.
Ella kniet sich wie gewohnt vor die kleine Wiege, in der Molla schlafen soll. Sie deckt sie sorgsam zu, schaukelt sie kräftig.
»Sing ein Lied für sie«, sagt sie.
»Was für eins denn?«
»Ein Pipilied«, sagt sie.
»Nein, kein Pipilied, ich singe ein Wiegenlied«, erwidere ich. Inzwischen weiß ich mit solchen Situationen umzugehen.
»Ja, ein Wiegenlied«, wiederholt sie.
Ich stimme das Lied an, das meine Mutter für mich gesungen hat. Ella kniet neben mir, legt den Kopf schief, lauscht. Ich schrecke zusammen, als ich an der Tür ein Geräusch höre. Es ist der Mann. Er lächelt. Ich weiß nicht, wie lange er uns schon beobachtet hat.
Das Mädchen läuft aus dem Zimmer, wir bleiben zu zweit zurück. Mit zwei Gläsern und einer Flasche Wein steht er da. Er hält mir ein Glas hin, gießt mir ein. Auf einmal fehlt ihm der Gesprächsstoff, ich genieße seine Verunsicherung, lege ihn Schicht für Schicht offen. Ich kann sehen, wie er als Achtjähriger abends nach Hause rannte; er hat Verstecken mit den Nachbarjungs gespielt, der Abend war ein sich weit ausdehnender, ganzer Kontinent. Mein Blick fällt auf seine Unterarme, mit dem hochgekrempelten Hemd sieht er lässig aus wie immer, anziehend. Seine Beine haben dieses Pferdehafte, das mir wieder auffällt, an diesem Abend mag ich es sogar noch lieber als beim ersten Mal.
Er merkt, dass ich ihn beobachte, ist irritiert davon, wühlt in seinen Taschen. Nun sage ich erst recht nichts, lehne mich nur an die Wand und wende den Kopf ein klein wenig ab. Er holt eine Zigarette hervor. Seine Fingernägel sind oval; ich könnte wetten, dass er beim Lesen manchmal den Zeigefinger mitführt und sich zwischendurch die Schläfen reibt. Er zündet die Zigarette an. Inhaliert, hält sie zwischen Daumen und Zeigefinger, als hätte er es eilig. Trotzig. Ich sehe ihn als Gymnasiasten, garantiert sehnte er sich an einen anderen Ort, hegte Träume, begann in kleinen Parks mit dem Rauchen und kam nicht vor Mitternacht nach Hause. Er schlich am Schlafzimmer seiner Mutter vorbei und dachte an das Mädchen, das er geküsst hatte, war jedoch zu aufgekratzt, um das Glück des Augenblicks zu begreifen, die unwiederbringliche Vollkommenheit des Frühlingsabends, an dem alles vor einem liegt, es aber keine bindenden Versprechen gibt. Erst am nächsten Tag dämmerte ihm die Besonderheit dieses Moments, eine Woche später noch deutlicher.
Jetzt erkennt er solche Momente mit einer Deutlichkeit, die schmerzt. Und noch schmerzlicher ist die Erkenntnis, dass er die Küsse schon fast vergessen hat, die hektischen Zigaretten unter knospenden Linden, dazu all die Wege, die er hätte einschlagen können, aber eher zufällig verwarf, weil
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