Wahr
er andere wählte.
»Wie war dein Sommer in Kuhmo?«
»Ich habe auf grünen Wiesen gerauft.«
»Und die Kiefern?«
»Fragend.«
Er lacht.
»Du gehst sehr gut mit dem Mädchen um«, sagt er, »Ella hat viel von dir gesprochen.« Er blickt aus dem Fenster, dann zu mir. Er mustert mich.
»Wie hat dir die Zeichnung gefallen?«, fragt er, plötzlich leicht atemlos und gehetzt, als hätte er keine Zeit zu verlieren.
In diesen Sekunden stecken die ganze Dichte, das Gewicht und die Herbheit, die wir beide später, wenn wir an diesen Punkt zurückkehren, als pures Glück bezeichnen werden.
Ich verberge meine Gedanken nicht, lasse sie in einem Lächeln aufscheinen.
»Niemand hat mich bisher auf diese Weise gesehen.«
Der Abend geht weiter. Ich sehe ihn mit Gästen reden, die ich nicht kenne. Er spricht über Politik. Verglichen mit dem, was er mir gern sagen möchte, sind seine Worte oberflächlich. Er küsst Elsa, als sie neben ihm steht. Wieder setzt sich ein Gast neben mich, ein Freund des Mannes, er stellt sich als Lauri vor; zerstreut rede ich mit ihm über dies und das, meine Augen suchen den Raum nach dem Mann ab.
Ich lächle, alles ist leicht.
Zwischen Schultern, Krägen und erhobenen Gläsern hindurch schaut er zu mir, kurz, nur ein flüchtiger Blick. Ich sehe, dass er mich unbedingt finden wollte, danach kann er wieder weiterreden.
Hier beginnt alles. Später verstehe ich, dass es genau dieser Moment ist, in dem er mir diesen Blick zuwirft, der auch Angst enthält. Ich sitze auf dem Sofa, neben mir Lauri, der das Geheimnis jahrelang mit sich tragen wird, weil zwischen eng befreundeten Männern ungeschriebene Gesetze gelten.
Lauri fragt mich: »So, und du bist also das neue Kindermädchen?«
»Ja«, antworte ich zerstreut, denn ich bin bereits unterwegs woandershin, auf jemand anderen zu.
Zwischen Weingläsern und Lauris unwichtigen Sätzen hindurch fange ich seinen Blick auf. Jetzt ist dieser Blick sorglos, verweilt kaum auf mir, ist schon wieder zu Ende.
Aber gerade dadurch weiß ich Bescheid.
In der zweiten Septemberwoche bringt sich der Sommer in Erinnerung, die Tage sind warm und klar. Abends wird es windig, aber die Wärme hängt noch eine Weile in der Luft. Ich ziehe zum zweiten Mal ein, trage wieder meine Sachen im Koffer über die Schwelle.
Am Samstag fahren wir nach Tammilehto. Wir haben Proviant dabei, Brote in Pergamentpapier, Waffeln und Limonade. Im Auto kurbele ich das Fenster herunter, lasse den Wind rein. Das Mädchen juchzt, als säße es in einem Karussell. Später schläft es auf der Rückbank ein.
Das Sommerhaus ist keine kleine Hütte wie normalerweise üblich, sondern eine Villa. In Kuhmo sind Sommerhäuser graue Häufchen, falls Farbe zur Hand war, sind sie dunkelrot. Hier dagegen gibt es diese Villa, dazu einen großen Schuppen und ein Saunagebäude am Ufer. Ich gehe hinunter ans Ende des Grundstücks, schaue aufs Wasser.
»Als Erstes kochen wir Kaffee«, sagt er.
Wir breiten eine Decke am Ufer aus, das Mädchen setzt sich ohne Zögern auf meinen Schoß. Ich ziehe ihm einen Pullover über, setze ihm eine Mütze auf und binde ihm sicherheitshalber noch einen Baumwollschal um, den es sich sofort vom Hals zerrt. Die Sonne glitzert auf dem Wasser. Ich streife meine Schuhe ab, trotze dem nahenden Herbst und vergrabe meine Füße im Sand. Das Mädchen und ich backen sechs Sandkuchen und kreischen vor Begeisterung und Entsetzen, als eine große Welle sie verschluckt.
Ella will die Kuchen immer wieder neu erschaffen.
»Wohin verschwinden die?«, fragt sie verwundert. »Frisst der See die auf?«
»Genau, so kannst du dir das vorstellen.«
»Aber wo sind die dann? Sind die einfach weg?«
»Ja, die sind einfach weg.«
»Und wo bist du, wenn du weggehst?«
»Zu Hause.«
»Und wo ist das?«
»In der Liisankatu.«
»Musst du da heute noch hin?«
»Heute nicht. Heute bin ich bei euch und bleibe hier.«
Sie schläft mit Molla im Arm auf der Decke ein. Der Mann hebt sie vorsichtig hoch und trägt sie ins Haus. Dies ist seine Art von Zärtlichkeit und Geduld, mit dem Mädchen ist er niemals anders.
»Sollten wir nicht auch reingehen?«, frage ich ihn.
»Nicht nötig. Wir können noch draußen bleiben, sie schläft tief und fest.«
Wir denken denselben Gedanken. Wir müssen den Augenblick behutsam nutzen, ihn mit Bedacht entgegennehmen. Ich schaue auf den See. Ich sage, dass ich womöglich schwimmen werde. Der Mann schüttelt den Kopf: »Mach das nicht, das Wasser ist kalt,
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