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Wahr

Wahr

Titel: Wahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Riikka Pulkkinen
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Freunde treffen. Ich weiß nicht, dass es auch Vormittage gibt, an denen er allein am Seine-Ufer spazieren geht, ein Museum besucht oder sich ins Café setzt und den Gedanken kommen lässt: Eeva. Nun gut, denkt er. Eeva in ihrer ganzen Gestalt, Körperteil für Körperteil. Er bestellt einen Kaffee und raucht, schaut der Kellnerin zu, sieht Menschen, Autos und den Hund, der an der Straßenecke sein Geschäft erledigt, dazu die behandschuhte Dame, die sich über das Kothäufchen beugt, als wäre es ein seltenes Schmuckstück. Der Mann muss über dieses Bild laut lachen. Gern hätte er die Szene fotografiert, doch er hat seine Kamera nicht mitgenommen. Er beobachtet alles genau, raucht langsam seine Zigarette zu Ende und setzt mich dann in Gedanken Stück für Stück zusammen.
    Der Mund, wie sieht er aus?
    Und die Nase? Die Haare?
    Und das Lächeln. Vor allem das Lächeln!
    Die Sehnsucht ist eine hohle Stelle in der Brust, erinnert ganz entfernt an leichtes Sodbrennen, denkt er und amüsiert sich darüber. Dann plant er den August. Er ist entschlossen, mich nach Tammilehto mitzunehmen. Auch an den Winter denkt er bereits, an einen frostigen Tag, einen Schlittenhang, ausgelassene Schreie – ich in Skihose und weißer Pudelmütze, er möchte mich unbedingt in Pudelmütze sehen. Bei all dem begreift er nicht, dass er seinen Winter mit mir plant. Nicht mit Elsa. Alles hat schon angefangen. Alles ist schon in Bewegung.
    In Kuhmo kontrolliere ich jeden Morgen mit meinem Vater die Netze. Über dem See lichtet sich der Nebel, bis zur Insel kann man noch nicht sehen. Irgendwo singt der Polartaucher. Die Ruder klappern in ihren Dollen. Die Gummistiefel meines Vaters sind riesig. Als Kind habe ich sie mal anprobiert und bin in ihnen über den Hof geschlurft, bis ich keine Kraft mehr in den Beinen hatte.
    »Rudern«, sagt mein Vater. Dann: »Jetzt zurück.« Dann: »Doch weiterrudern.« Dann: »Wieder zurück.«
    »Was denn jetzt?«, frage ich. »Vorwärts oder rückwärts?«
    »Rückwärts«, sagt er, und ich rudere.
    Ich denke an die Kiefern, die sich am gegenüberliegenden Ufer erheben; wirklich, wie spärliche Fragezeichen.
    »Was grinst du?«
    »Nichts.«
    Ich denke an Elsa. Die Raupenaugenbrauen, das Lächeln. Es ärgert mich ein wenig, dass ich sie mir so leicht vorstellen kann.
    »Und jetzt wieder vorwärts.«
    Ich bringe die Ruder in Position.
    »Und rückwärts.«
    Die Dollen quietschen leise, das Wasser tropft von den Ruderblättern, leichtgängig durchpflügt das Boot den See. Hinter uns schließt sich die Fahrrinne, der See wird wieder zu einem Spiegel, der Vater und Tochter nie gese­hen hat.
    »Findest du auch, dass Kiefern irgendwie fragend aussehen?«
    »Wie sollen die aussehen?«
    »Fragend. Oder verwundert. Die da drüben, gegenüber.«
    »Na, das ist wohl wieder so eine Spinnerei von dir«, brummt mein Vater.
    Abends heize ich die Sauna. Ich muss mehrmals Holz nachlegen und warte auf dem Steg, bis es heiß genug ist. Der Himmel übergießt die Bäume, der See verstummt. Von fern erklingt eine Stimme, vielleicht ist es unser Nachbar, der seine Reusen prüft. Ich sitze da und denke an sein Kinn. Dieses Kinn. Und dieses Lachen. Und diese Sätze.
    Dann gehe ich in die Sauna. Ich schöpfe heißes Wasser aus dem Blechbehälter am Ofen. Wasche mir die Haare, gieße mir eine ganze Schüssel voll Wasser über den Kopf, es platscht laut auf den Boden, Tropfen zischen auf dem Ofen. Dann gehe ich ins Wasser, bleibe stehen, als es mir bis zur Mitte der Oberschenkel reicht. Hier beginnt es. Die fragenden Kiefern erheben sich, der Himmel ist bleich, der Mond steigt scheu hinter einer dünnen Wolke auf, und ich denke: Wenn es so kommen soll, dann lasse ich es zu.
    Als ich im August in die Stadt zurückkehre, ruft Elsa an. Sie erzählt von dem Fest, das sie jedes Jahr am Ende der Urlaubszeit geben, und lädt mich ein. Ich zögere; die Gäste werden mich einschüchtern, all diese Künstler und Wissenschaftler und Schriftsteller. Sie reden über die Welt, als wäre es ihre, ihre Stimmen dröhnen bis auf den Dachboden und in den Keller. Gegen Ende steigt jemand brüllend auf den Tisch, und spätestens dann schrumpfe ich auf Spielzeuggröße, erstarre vor Scheu zu einer Puppe.
    »Was soll ich denn sagen?«, frage ich Elsa. »Dass ich eure Hausangestellte bin? Oder soll ich mich als Studentin vorstellen?«
    »So weit kommt’s noch, du bist ganz einfach eine Freundin der Familie, du bist doch eine von uns!«
    »Aber ich habe

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