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Wahr

Wahr

Titel: Wahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Riikka Pulkkinen
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bitteschön?! Hast du etwa Wein getrunken?«
    Ihre Mutter tat, als würde sie die Frage nicht begreifen.
    »Du trinkst in aller Ruhe Rotwein und beschwerst dich dann, dass es dir schlecht geht, ja? Mit wem? Mit Anna etwa?«
    »Mit deinem Vater. Ein erwachsener Mensch wird ja wohl noch ein Glas Wein trinken dürfen.«
    »Nicht in deinem Zustand.«
    »Ach, du weißt doch überhaupt nichts«, sagte ihre Mutter mit erstickter Wut. »Du bildest dir ein, Bescheid zu wissen. Aber du weißt nichts von meinen Schmerzen, absolut nichts.«
    Eleonoora schwieg, die leere Flasche lag unentschieden in ihrer schlaffen Hand, ein paar rote Tropfen fielen aufs Parkett.
    In den Augen ihrer Mutter blitzte Hass auf.
    Eleonoora dachte, wie erleichtert sie wäre, wenn der Tod käme, unendlich erleichtert, sogar froh. Sie schob diesen Gedanken beiseite, bevor man ihn auf ihrem Gesicht lesen konnte. »Du ahnst nicht, wie gern ich einen Teil deiner Schmerzen auf mich nehmen würde. Wenn es ginge, würde ich sie sogar alle auf mich nehmen.«
    Sie erinnerte sich an die Hilflosigkeit, die sie befiel, als Anna ihre ersten körperlichen Schmerzen erleben musste. Manchmal schien es ihr, als würde jeder Heulanfall ihre Tochter weiter von ihr entfernen. Anna war als Zweijährige an den heißen Ofen gekommen. Sie hatten Pfefferkuchen gebacken, Anna hatte zugesehen, wie der helle Teig in der Hitze zu braunen Figuren aufging. Als sie das Blech aus dem Ofen nahm, zeigte Anna erstaunt auf die dunklen Zacken eines Sterns. Eleonoora wandte ihr für einen Moment den Rücken zu, eine Sekunde nur, hinter ihr stand die Ofentür noch offen. Als sie sich wieder umdrehte, hielt ihre Tochter sich an der Innenseite der heißen Tür fest. Ihr aufgerissener Blick, bestürzt. Als hätte sie sich hintergangen gefühlt. Und Eleonoora kam es vor, als habe sie ihre Tochter tatsächlich hintergangen. Sie hatte ihr vorgemacht, dass Backen etwas Lustiges war, dass das ganze Leben wie Backen war. Sie hantierte gutgelaunt mit dem Blech herum, während ihre Tochter sich furchtbare Verbrennungen zuzog. All dies, die Enttäuschung des Betrugs, die Bestürzung über das Alleinsein, das Entsetzen über die Realität des Schmerzes, spiegelte sich überdeutlich auf dem Gesicht ihrer kleinen Tochter. Es war das erste Mal, dass Eleonoora ihre Tochter als sie selbst sah. Anna, in meinem Leib gewachsen, aber ein eigenständiges Wesen. Gleichzeitig begriff sie: Sie würde das Kind nie vor Enttäuschungen bewahren können. Und dann schrie Anna los. Sie mussten ins Krankenhaus fahren, die Brandblasen waren riesig und mit Flüssigkeit gefüllt. Eine Woche lang musste sie sie jeden Abend aufstechen und mit einer dicken Heilsalbe einschmieren. Jedes Mal weinte Anna bitterlich. Und jedes Mal hörte das Weinen auf, wenn Eleonoora sie nur lange genug tröstete. Aber sie sah auch jedes Mal das fremde Mädchen, zu dem Anna werden würde, das sich mit jeder Enttäuschung ein Stück von ihr entfernen würde.
    Eleonoora schaute ihre Mutter an und streckte hilflos die Hand aus. »Sag mir, was ich tun kann. Sag es mir.«
    Ihre Mutter schwieg, klopfte dann mit der Hand auf die Bettkante. »Leg dich neben mich.«
    Ihre Mutter schlang den Arm fest um sie, sie ließ es zu. So hatten sie beieinander gelegen, als sie noch klein war.
    »Dein Vater erträgt das alles nicht«, sagte ihre Mutter unvermittelt. »Er spielt den Starken, aber er erträgt es nicht, ich sehe es genau.«
    »Aber er erträgt es doch ganz gut«, widersprach sie.
    »Das verstehst du nicht.«
    »Moment. Er ist immer an deiner Seite gewesen. Jahrzehntelang. Immer an deiner Seite. Und auch jetzt. Das ist nicht gerade wenig.«
    Ihre Mutter sah aus dem Fenster, ihr Gesicht schien sich zu verschließen. »Ja. Das ist nicht wenig.«
    Sie lagen nebeneinander. Eleonoora machte es sich gemütlicher, streifte die Socken ab.
    Sie bemühte sich um einen neuen Ton: »Da habt ihr euch also einen kleinen Rausch angetrunken?«
    »Ach was«, erwiderte ihre Mutter, »drei Gläser nur.«
    »Drei Gläser? Du liegst nicht im Sterben, du hast einen Kater!«
    »Aber so heißt es doch: Der Kater ist der kleine Tod.«
    »Nein, es heißt, der Orgasmus ist der kleine Tod.«
    »Ach, so ging das?«
    Und schließlich sagte sie es, ließ den Satz ganz beiläu fig fallen, als wäre er einer von vielen. »Ich will nicht, dass du gehst.«
    »Ich gehe auch nicht. Noch nicht.«
    Im Flur rumpelte es, Maria rief Hallo. Sie kam an die Tür, hinter ihr stand Anna.
    »Wie ist das

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