Wahr
von einer Erfahrung oder Begegnung berichtet, die ihren Verstand überstieg: »Das war nicht Gott. Auch kein Engel. Aber dieses Wesen hat mich in die Arme genommen, und plötzlich hatte ich das Gefühl, als müsste ich nie wieder allein sein. Der Schutz war absolut, wie als Kind der Schoß der Mutter.«
Wenn Eleonoora ihren Patienten beim Schlafen zusah, überlegte sie oft, wo sie sich wohl während der Narkose befanden. Riitta hatte einmal gesagt, dass sie sich zugleich der Geburt und dem Tod annäherten. »Das ist eine ganz eigene Zeitqualität, davon bin ich überzeugt«, meinte Riitta. Alle Erinnerungen waren präsent, alle Menschen. Das musste man sich mal vorstellen: Sein ganzes Leben in einem einzigen Moment, wie von fern betrachtet. »Vermutlich ähnelt es dem Zustand kurz vor dem Tod. Man sieht und weiß alles. Bedauerlich, dass so wenige aus diesem Zustand zurückkehren und davon berichten können.«
Vielleicht ist das auch ein Segen, dachte Eleonoora. Vielleicht würde einen dieses Wissen überfordern. Womöglich war dieses Wissen Gott vorbehalten, sofern es ihn gab. Und den Toten, sofern es ein Leben nach dem Tod gab. Und den Schriftstellern, die von außen auf das Leben blickten und jedem Gedanken, jedem Gefühl ihrer Figuren nachspürten, das Geschehen von allen Seiten beleuchteten. Eleonoora schloss die Naht ab, Riitta bereitete die Extubation vor.
»Wie geht es deiner Mutter?«, fragte Riitta, während sie den Patienten in den Aufwachraum schoben.
Eleonoora hatte der Kollegin gegen Ende des Winters von ihrer Mutter erzählt, als die kurze Chemotherapie beendet wurde.
»Sie wollte nach Hause. Wir probieren das jetzt seit ein paar Tagen aus.«
Riitta berührte sanft ihre Schulter. Ein Gefühl sickerte von irgendwo aus Eleonooras abgeschirmtesten, geheimsten Schichten hervor: Dankbarkeit über das Mitgefühl, die auch eine Spur Verwunderung enthielt. Menschen nahmen unermüdlich Anteil, zeigten Einfühlung und Verständnis inmitten von Eile, Meetings, Einladungen, Nachrichten.
Wie gern hätte sie Riitta gesagt, was sie auch Eero jeden Tag sagen wollte, indem sie seine Art zu putzen und einzukaufen bemängelte, sich beschwerte, dass niemand außer ihr den wartenden Abwasch bemerkte: Ich weiß nicht, ob ich ohne Mutter leben kann. Ich weiß nicht, ob ich mich in den wenigen Wochen, die wir noch haben, darauf vorbereiten kann. Manchmal kommt es mir vor, als würde ihr Tod mein ganzes restliches Leben auslöschen.
»Die Zeit wird knapp«, bekam sie hervor.
»So ist es immer«, sagte Riitta. »Sprich mit deiner Mutter, erinnert euch an das, was gewesen ist. Und wenn die Zeit gekommen ist, lass los.«
Das war es: Lass los. Sie hatte nie losgelassen, nicht einen Moment, nicht einen Menschen. Immer hatte sie sich festgeklammert, alles aufrechtzuerhalten versucht. Woher kam dieser Zug? Woher die Überbesorgtheit? Wieso glaubte sie, allein die ganze Welt auf ihren Schultern tragen zu müssen?
Über ihr Gesicht lief eine Träne, eine zweite.
Riitta umarmte sie.
Ihr Vater ging nach dem dritten Klingeln ans Telefon.
»Ist der Pflegedienst da gewesen?«
»Ja. Die Krankenschwester hat Blut abgenommen, eine Schmerzpumpe gebracht und uns gezeigt, wie sie funktioniert. Aber deine Mutter wollte sie nicht benutzen. Ist angeblich noch nicht nötig.«
»Hat sie gegessen?«
»Nein. Ihr ist ein bisschen übel.«
Unter Eleonooras Füßen wankte der Boden. Sie hielt sich mit den Augen an einem Stück Seife am Waschbeckenrand fest.
»Wieso das denn?«, hörte sie sich fragen.
»Ich weiß auch nicht«, antwortete ihr Vater. »Sie hat den ganzen Vormittag im Bett gelegen. Konnte nicht aufstehen.«
Eleonoora versuchte, Zwischentöne herauszuhören, sagte dann: »Ich fahre heute Abend mit Anna nach Tammilehto. Rührt die Schmerzpumpe nicht an, wir machen vorher noch einen Zwischenstopp bei euch, dann kann ich Mama zeigen, wie sie funktioniert.«
Sie wusste, dass ihr Vater Befehle nicht schätzte, konnte sich aber nicht im Zaum halten. Nachdem sie sich umgezogen hatte, öffnete sie die Tür und betrat den Flur. Die Krankenhausatmosphäre umgab sie mit ihrer betriebsamen Kulisse. In der Kantine ordnete die Bedienung Krapfen auf einem Tablett an, eine Schwester ging mit hastigem Nicken an Eleonoora vorbei. Als Nächstes rief sie Anna an. Beim sechsten Klingeln fiel ihr ein, dass Anna arbeitete, also schickte sie eine SMS . Danach rief sie Eero an, jetzt wollte sie ihre Trauer und Enttäuschung zulassen. Aber
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