Wahrheit (Krimipreis 2012)
Zeigen Sie mir das Buch?«
Die Heimleiterin drückte auf einen Knopf an ihrem Telefon, sie hörten das schrille Bimmeln aus dem Nebenzimmer. Die blaue Frau öffnete die Tür.
»Das Besucherbuch, Judith.«
Judith brauchte nur wenige Sekunden. Die Heimleiterin fand die Seite problemlos, drehte das Buch so, dass Villani lesen konnte, deutete auf eine Zeile.
Name: K. D. Donald
Beziehung: Neffe
Adresse: Swanston Street 26/101, Melbourne
»Mrs. Crossley nannte ihn Pater Donald«, sagte Villani.
Der dünne Mund der Heimleiterin zog sich in die Länge. »Mrs. Crossley war zu der Zeit nicht im Vollbesitz ihrer geistigen Fähigkeiten. Sie dachte, ihre Hunde lägen unter dem Bett.«
»Was war mit ihren geistigen Fähigkeiten?«, sagte Birkerts.
»Hab ihre Beichte gehört«, sagte Judith hinter ihnen.
Sie drehten sich um.
Erst lief sie rötlich, dann knallrot an. »Ich hab’s ihn sagen hören«, sagte Judith. »Gott der Allmächtige schenke dir Vergebung und Frieden. Ich spreche dich los von deinen Sünden. Das hat er gesagt.«
Eine Geschichte.
Jemand hatte eine Geschichte erzählt. Wo?
Bestimmt bei den Räubern. In den ersten Monaten, wenn man noch schüchtern war, lachte man über jede Geschichte, die einem die erfahrenen Kämpen erzählten, egal, ob man sie verstand oder nicht. Wer hatte sie erzählt? Worum ging es? Handelte sie von Beichte? Von Vergebung? Absolution?
Sie fiel ihm nicht ein, sie lag gleich hinter den Wellenbrechern, im tiefen Wasser, in dem dunklen, glitschigen, schwimmenden Seetang der Erinnerung.
In dem Backofen von einem Auto ließ Birkerts den Motor an, die Klimaanlage kämpfte gegen die Hitze. Villanis Handy. Tomasic.
»Ich komme in der Sache Körperverletzung durch die Ribs nicht weiter, Chef. Das System ist abgestürzt, keiner in Geelong war schon ’94 da. Außerdem ist der einzige Pater Donald im ganzen Land vor drei Jahren gestorben.«
»Unser Glückstag.« Villani steckte das Handy weg. »Fahren wir heim«, sagte er. »Wenn man es so nennen will.«
E r duschte, zog den Morgenmantel an, ging in die Küche und machte ein Bier auf, leerte es zur Hälfte und nahm es mit zu einem Sessel an einem offenen Fenster, das die gesamte Länge der Wand einnahm. Der Fernseher stand vier Meter entfernt, in ein Bücherregal eingepasst.
Er benutzte die Fernbedienung, wartete auf die Nachrichten, schaltete den Ton ein. Nach dem Welt-im-Aufruhr-Vorspann sagte der Nachrichtensprecher mit starrer Miene:
Unsere Topstory heute Abend, infolge sensationeller Behauptungen der Oppositionsführerin Karen Mellish wird die Regierung des Bundesstaats von neuen Schockwellen erschüttert. Unsere politische Redakteurin Anna Markham berichtet.
Anna, ganz der leidenschaftslose Profi, in all ihrer geballten hübschen, ruhigen Intelligenz. Sie sagte:
Was Oppositionsführerin Karen Mellish vor zwanzig Minuten den Medien berichtete, ist eine komplizierte Geschichte. Aber es läuft auf Folgendes hinaus. Der Sohn des Justizministers Anthony DiPalma, die Stiefmutter von Planungsminister Robbie Cowper sowie die Exfrau von Assistant Commissioner John Colby haben offenbar allesamt riesige Spekulationsgewinne eingestrichen, weil sie in dem exklusiven Prosilio- Tower in den Docklands Apartments gekauft haben.
Filmclips der drei Männer: der JM in voller Aktion im Parlament, der kuhgesichtige Cowper, wie er in einem Vorort
irgendeine Planungsentscheidung verteidigt. Und dann Colby in Uniform, wie er mit strenger Miene über Rockerbanden spricht.
Anna hob das Kinn mit dem Grübchen, legte den Kopf schräg.
Karen Mellish sagt, DiPalma, Cowper und Colby nahestehende Personen hätten noch während der Planungsphase Wohnungen im Prosilio-Gebäude gekauft. Sie hätten Anzahlungen von 80 000 Dollar geleistet, die sie sich von einer Firma namens Bernardt Capital Partners liehen. Zwei Jahre später verkaufte dieselbe Firma die Wohnungen an Käufer aus Asien für etwa 750 000 Dollar pro Wohneinheit. Dann zahlte Bernardt den Eigentümern Beträge zwischen 410 000 und 450 000 Dollar.
Karen Mellish, Nadelstreifenkostüm, eine strenge, sexy Schuldirektorin.
Wirklich kinderleicht. Diese Leute haben mal eben plus minus 430 000 verdient, ohne auch nur einen einzigen Cent selbst aufzubringen. Sogar nach Bezahlung der Kapitalertragssteuer bleibt ein netter kleiner Gewinn, finden Sie nicht auch?
Handelt es sich dabei um eine Art Sippenhaft? Wissen Sie, ob Mr. DiPalma, Mr. Cowper oder Mr. Colby davon persönlich profitiert
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