Wahrheit (Krimipreis 2012)
»Ist Corin da?«
»Ja. Tony kommt nach Hause, er nimmt…«
»Gut. Ich ruf dich morgen an. Hast du was zum Einnehmen? Damit du schlafen kannst?«
»Ja.«
»In Ordnung. Tja. Gute Nacht.«
»Ich kann dir …«
»Morgen. Wir reden morgen.«
»Steve, ich kann dir gar nicht sagen, wie …«
»Du hast ihr geglaubt«, sagte er. »Du dachtest, ich wäre zu so was fähig.«
»Du musst aber…«
»Morgen. Gute Nacht.«
Er ging wieder in die Küche, goss sich ein halbes Glas Whisky ein und nahm es mit zu dem Sofa, wo er früher am Tag geschlafen hatte. Er trank einen Schluck, und eine Träne lief ihm die Nase entlang. Er fing an zu weinen. Eine Zeit lang weinte er stumm, dann begann er zu schluchzen, zuerst leise, dann lauter und immer lauter.
Ihm fiel auf, dass er in seinem ganzen Leben noch nie laut geweint hatte. Es war, als sänge er zum ersten Mal.
Nach einer Weile zog er die Beine an und legte sich auf den Rücken. Er schlief ein, als hätte er einen Keulenschlag verpasst bekommen, und schlief die restliche Nacht durch, wachte mit nassen Wangen auf.
A m Morgen, als Villani ziellos umherlief, bemüht, nicht zu rauchen, rief Birkerts an.
»Unten«, sagte er.
»Wieso das?«
»Frühstücken.«
Am liebsten hätte Villani abgelehnt, doch das würde es nur hinauszögern. Man musste es einfach überstehen. In Bobs Worten: Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles.
Villani hatte wissen wollen, wer das gesagt hatte. »Irgendein Deutscher«, sagte Bob.
Jetzt sagte Villani: »Red nur nicht darüber.«
Sie gingen zu Enzio’s. Für die Bewohner des Viertels war es zu früh, nur die solide Lebenden und die unsoliden Überlebenden der Nacht waren unterwegs.
»Hör zu«, sagte Birkerts. »Gestern habe ich über Geelong nachgedacht, und dann fiel mir Camerons Sohn ein. Was passierte, nachdem dieser Noske sich umgebracht hatte?«
»Die Ermittlungen verliefen im Sande«, sagte Villani. »Noske war es. Es hat nie einen Prozess gegeben, wohlgemerkt. Dazu hätte er aussagen müssen. Hinzu kam wohl, dass, nachdem Cameron und anschließend Deke Murray aufgehört hatten, keiner mehr so richtig Dampf machte, andere Dinge wurden wichtig.«
»Man ging davon aus, dass Noske allein war?«
»Ein irrer Einzelgänger, dem hätte keiner geholfen.«
Einige Fragen zu dieser kalten Nacht in dem Tal waren nie
beantwortet worden. Die umgeworfenen Möbel, das zerbrochene Geschirr, das aus der Schlagader quellende Blut, die Flecken des von der Waffe abgetropften Bluts, die durch das Zustechen erzeugten Blutspritzer, die blutigen Schuhabdrücke, das alles deutete darauf hin, dass Dave Cameron versucht hatte, sich einer Person zu erwehren, die mit einem großen Messer oder einem Schwert auf ihn einschlug. Dann wurde er zweimal mit einer unbekannten Waffe in den Körper und dreimal mit seiner eigenen Dienstwaffe in den Kopf geschossen.
Doch was machte Camerons Freundin, während all das passierte? Nichts deutete darauf hin, dass sie gefesselt wurde, ehe man mit Daves Waffe dreimal in den Kopf schoss. Doch möglicherweise war genau das geschehen: Sie war soeben von der Radrennbahn gekommen, sie war eine Radrennfahrerin und trug noch ihren Lycra-Sportdress. Das hätte verhindert, dass die Fesselung Spuren hinterließ.
»Die Ribs waren also in Geelong, und du dachtest …«
»Mein Gehirn durchlaufen gewisse Schübe«, sagte Villani. Er kaute rein mechanisch. Er musste essen, er wollte es nicht.
»Vergebung, Frieden und Erlass der Sünden«, sagte Birkerts. »Das Prinzip gefällt mir. Wenn das keine Macht ist. Da kann man wirklich was bewegen.«
Die Gabel war kurz vor Villanis Mund.
Colbys Geschichte an jenem Freitagabend in den Büroräumen der Räuber, Bierflaschen in den Händen, Luft grau von Qualm. Sie handelte von zwei toughen Jungs aus Broady, die Jahre zuvor auf die Wache gebracht worden waren, zwei Brüder, Coogan, Cooley, so was in der Art. Sie hatten einen Drive-in-Getränkemarkt in der Johnson Street überfallen, gewartet, bis ein junger Mann, ein Schüler, die Rolltür runterzog, waren wie Krokodile darunter hindurchgeschliddert, hatten die beiden Angestellten zusammengeschlagen, mit selbst gefertigten Schlagringen, hatten die Gesichter blutig
geschlagen, Nasen und Wangenknochen gebrochen, den einen bewusstlos getreten.
Dann, in den spartanischen Räumen des Raubdezernats, waren die Brüder an der Reihe, zu erfahren, was Angst und Schrecken bedeuteten. Nach einer Weile, so erzählte Colby, äußerte der Ältere, der
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