Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman
arbeite mit ihm daran, den Zauber zu durchbrechen.«
Wieder einmal blicke ich diese Frau an und denke, daß sie mir wildfremd ist. »Und du glaubst ehrlich daran?«
»Was ich glaube, spielt keine Rolle. Es kommt darauf an, was er glaubt. Die Menschen kommen zu mir, weil sie bei ihrer Heilung mitwirken können.«
Ich hatte gedacht, daß ich das will. Aber jetzt, wo meine Erinnerung langsam zurückkehrt, wünsche ich mir nur noch, dem wäre nicht so. Ich berühre die
Narbe an meinem Hals, die Entdeckung, die mich hergeführt hat. »Wenn du eine Heilerin bist, wieso konntest du mich dann nicht retten?«
Ihre Augen fallen auf die kleine Vertiefung. »Weil ich mich damals nicht mal selbst retten konnte«, gesteht sie.
Plötzlich bin ich es müde, Mauern zu sehen und selbst zu errichten. Ich möchte jemanden haben, der die Kraft - und die Ehrlichkeit - besitzt, sie einzureißen.
»Dann tu es jetzt«, fordere ich. »Tu so, als wäre ich eine Kundin.«
»Dir fehlt nichts.«
»Und ob mir was fehlt«, sage ich. »Ich leide. Ich leide unentwegt.« Tränen brennen mir in der Kehle. »Du hast doch bestimmt irgendeinen Zauber, mit dem du Dinge verschwinden lassen kannst. Irgendeinen Trunk oder einen Spruch oder ein Band, das ich mir ums Handgelenk binden kann, irgendwas, das mich vergessen läßt, daß du getrunken hast ... und daß du meinen Vater betrogen hast.«
Sie weicht zurück, als hätte ich sie geohrfeigt.
»Was würdest du mir geben«, frage ich mit zittriger Stimme, »damit ich vergesse ... daß du mich vergessen hast?«
Meine Mutter zögert einen Augenblick, und dann geht sie steif zu ihren Regalen. Sie nimmt drei Gefäße herunter und eine Glasschüssel. Sie öffnet die Gefäße. Ich rieche Muskat, Sommer, ein Destillat aus Hoffnung.
Aber sie rührt mir keinen Brei für eine Packung oder zum Einnehmen an. Sie umwickelt mir nicht die Handgelenke mit grüner Seide und sagt mir auch nicht, ich
soll drei Kerzen anzünden. Statt dessen kommt sie zögernd um ihren Arbeitstisch herum. Sie schließt mich in die Arme und hält mich fest, als ich mich abwenden will. Sie läßt einfach nicht los, die ganze Zeit, die ich weine.
Die bahrt durch die Nacht will einfach kein Ende nehmen. Ruthann und ich wechseln uns am Steuer ab, wahrend Sophie und Greta auf dem Rücksitz schlafen. Wir sind auf dem Interstate 17 und fahren Richtung Norden, vorbei an Orten mit Namen wie Bloody hasin Road und Horsethief Basin, Jackass Acres, Little Squaw Creek. "Wir sehen Saguaro-Skelette, in denen sich Vögel eingenistet haben, und die bernsteinfarbenen Scherben von Bierflaschen, die glitzernd den Straßenrand säumen.
Im Vorgebirge werden die Kakteen weniger, und die ersten Laubbäume tauchen auf. Je höher wir kommen, desto mehr fällt die Temperatur, bis es irgendwann zu kühl wird und ich das Fenster hochkurbeln muß. In der Ferne erheben sich rote Felswände, die von der aufgehenden Sonne in Brand gesetzt werden.
Ich laufe nicht davon, nicht direkt. Ich habe mich einfach selbst eingeladen, Ruthann zu begleiten, die ihre Familie auf der Second Mesa besuchen will. Sie war nicht begeistert, aber ich habe gesagt, ich fände es wichtig, daß Sophie mehr von der Welt kennenlernt. Und daß ich mehr von Arizona sehen wollte als nur das Innere eines Gefängnisses. Und daß ich dringend mit jemandem reden müsse und wollte, daß sie dieser Jemand ist.
Während der Fahrt erzähle ich Ruthann von dem Artikel, den Fitz für die Gazette schreibt. Ich erzähle ihr von dem Skorpionstich und was mir zu Victor wieder einfiel und was Eric bereits wußte. Ich erzähle ihr nicht von meiner Mutter. Den Augenblick möchte ich vorerst noch für mich behalten, wie einen Silberdollar, den ich im Saum meiner Gedanken verstaut habe, um ihn im Notfall hervorzuholen.
»Dann hast du mich also angefleht, euch mit auf die Second Mesa zu nehmen, weil du sauer auf Eric bist«, sagt Ruthann.
»Ich hab dich nicht angefleht«, sage ich, und sie zieht eine Augenbraue hoch. »Na gut, vielleicht ein. bißchen.«
Ruthann schweigt ein paar Sekunden. »Nehmen wir mal an, Eric hätte dir, gleich nachdem er es erfahren hat, erzählt, daß deine Mutter damals eine Affäre hatte. Hätte es was daran geändert, daß deine Eltern sich getrennt haben? Nein. Wäre dein Vater dann nicht mit dir abgehauen? Nein. Wäre dein Vater dann nicht verhaftet worden? Wieder nein. Ich finde, das einzige, was er damit erreicht hätte, wäre gewesen, daß du noch aufgebrachter wirst,
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