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Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman

Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman

Titel: Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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sage ich, während ich weiterlese. »Die Ärzte mußten bei dir einen Luftröhrenschnitt machen und haben dich dann an ein
    Beatmungsgerät angeschlossen.« Ganz unten auf der Seite steht:
    Sozialarbeiterin wurde hinzugezogen, da Mutter
    offensichtlich alkoholisiert; Vater verständigt.
    Da habe ich einen Beweis, schwarz auf weiß: das medi-zinische Personal einer Notaufnahme hielt Elise für so betrunken, daß sie nicht in der Lage war, sich um ihr Kind zu kümmern.
    Delia blickt mich an. »Unglaublich, daß ich mich nicht daran erinnern kann.«
    »Du warst eben noch ganz klein.«
    »Müßte ich nicht wenigstens irgendein vages Gefühl haben, daß ich ein paar Nächte in einem Krankenhaus war? Daß ich künstlich beatmet wurde? Oder mich gegen den Arzt gewehrt habe? Ich meine, überleg doch mal, was da steht, Eric. Ich mußte sediert werden.«
    Sie steht abrupt auf, geht aus dem Raum und erkundigt sich bei der Sekretärin, wo die Kinderstation ist. Sie steigt in den Aufzug, ich folge ihr, und wir fahren nach oben.
    Bestimmt sieht heute alles anders aus als früher. Die Wände sind bemalt mit Unterwassermotiven und Disney-Prinzessinnen, und Regenbögen schmücken die Fenster. Kinder steuern in Begleitung ihrer Eltern ihre Venentropfe über die Flure, Babys brüllen hinter geschlossenen Türen.
    Eine Praktikantin kommt aus einem anderen Aufzug und läuft an uns vorbei, das Gesicht hinter einem Bukett aus Luftballons versteckt. Sie bringt sie in das Krankenzimmer gegenüber. Die Patientin ist ein kleines Mädchen und sagt: »Können wir die ans Bett binden, vielleicht kann ich damit fliegen?«
    »Ich hatte keine Luftballons«, murmelt Delia. »Solche Dinge waren damals auf der Kinderstation nicht erlaubt.« Sie geht direkt vor mir her, aber sie könnte tausend Meilen weit weg sein. »Er hat mir statt dessen Süßigkeiten mitgebracht ... einen Lutscher in Form eines Skorpions. Er hat gesagt, ich soll ihn zurückbeißen.«
    »Dein Dad?«
    »Ich glaube nicht. Es ist verrückt, aber es war jemand, der aussah wie Victor. Der Mann, mit dem meine Mutter jetzt verheiratet ist.« Sie schüttelt den Kopf, verwirrt. »Er hat gesagt, ich soll keinem erzählen, daß er mich besucht hat.«
    Ich scharre mit dem Schuh über das Linoleum. »Mhm«, sage ich.
    »Der Skorpionbiß war 1976, da waren meine Eltern noch verheiratet.« Delia blickt mich an. »Und wenn ... wenn meine Mutter eine Affäre hatte, Eric?«
    Ich gebe keine Antwort.
    »Eric«, sagt Delia, »hast du mir zugehört?«
    »Sie hatte eine.«
    »Was?«
    »Dein Vater hat's mir erzählt.«
    »Und warum hast du mir nichts davon gesagt?«
    »Ich konnte nicht, Delia.«
    »Was enthältst du mir noch alles vor?«
    Zig Antworten wirbeln mir durch den Kopf, von Einzelheiten aus meinen Gesprächen mit Andrew im Gefängnis bis zu der Aussage von Delias damaliger Vorschullehrerin, Dinge, die sie besser nicht erfährt, obwohl sie das sicherlich anders sehen würde. »Du
    wolltest doch, daß ich deinen Vater verteidige«, entgegne ich. »Wenn ich dir erzähle, was er mir erzählt, hin ich den Fall los und vielleicht sogar meine Zulassung. Also, entscheide dich, Delia. Soll ich dich vorziehen ... oder ihn?«
    Zu spät wird mir klar, daß ich die Frage nicht hätte Mellen sollen. Ohne ein Wort schiebt sie sich an mir vorbei und stürmt den Flur hinunter.
    »Delia, warte«, rufe ich, als sie in den Aufzug steigt. Ich halte eine Hand zwischen die Türen, damit sie sich nicht schließen. »Hör auf. Ich versprech dir, ich erzähl dir alles, was ich weiß.«
    Das letzte, was ich sehe, bevor die Türen zugehen, sind ihre Augen: ein sanfter Ausdruck der Enttäuschung. »Warum jetzt noch damit anfangen«, sagt sie.
    Das Taxi setzt mich an der Kanzlei Hamilton ab, doch statt in das Bürogebäude zu gehen, wende ich mich nach links und gehe durch die Straßen von Phoenix. Irgendwann verschwinden die eleganten Ladenfronten, und ich lande in einer Gegend, wo Jugendliche in Hüftjeans an der Ecke herumlungern und den Verkehr beobachten, ohne ihre gelb unterlaufenen Augen zu bewegen. Ich komme an einem mit Brettern vernagelten Drugstore vorbei, einem Perückengeschäft und dann an einem Kiosk mit einem Schild, auf dem in mehreren Sprachen nehme auch Schecks steht.
    Delia hat recht. Wenn ich es bisher geschafft habe zu verhindern, daß sie den Inhalt meiner Gespräche mit ihrem Vater erfährt, dann hätte ich es doch wohl auch irgendwie hinbekommen, daß die Anwaltskammer nicht erfährt, was ich ihr

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