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Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman

Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman

Titel: Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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vielleicht erzählt habe. Es spielt keine Rolle, daß ich ihr in meiner Eigenschaft als
    Anwalt gar keine Informationen über den Fall ihres Vaters hätte verraten dürfen oder über ihre eigene nicht vorhandene Vergangenheit. Es spielt keine Rolle, daß ich das Richter Noble versprochen habe oder Chris Hamilton, meinem Bürgen in Arizona. Ethische Grundsätze sind hohe Maßstäbe, aber menschliche Zuneigung hat einen höheren Stellenwert. Was habe ich auf lange Sicht davon, ein vorbildlicher Anwalt zu sein? Das habe ich noch bei niemandem auf dem Grabstein stehen sehen. Dort sieht man, wer ihn geliebt hat, man sieht, wen er geliebt hat.
    Ich betrete den nächsten Laden und lasse die klimatisierte Luft über mich hinwegfluten. Der Geruch von Pappkartons ist unverkennbar. Eine Kasse klimpert. Eine Wand ist bedeckt mit smaragdgrünen Weinflaschen aus dem Ausland. Das ganze hintere Regal ist ein transparentes Panorama aus Gin und Wodka und Wermut. Die dickbäuchigen Brandys hocken Seite an Seite wie Buddhas.
    Ich steuere auf die Ecke mit den Whiskeys zu. Der Kassierer packt eine Flasche in eine Papiertüte und gibt mir das Wechselgeld. Sobald ich den Laden verlassen habe, schraube ich den Deckel ab. Ich setze die Flasche an die Lippen und lege den Kopf in den Nacken und koste den ersten, seligen, anästhetischen Schluck.
    Und genau wie ich erwartet habe, genügt das, um den Nebel in meinem Kopf zu vertreiben und mir eine Sache ehrlich einzugestehen: Selbst wenn es mir freigestanden hätte, Delia alles zu erzählen, ich hätte es trotzdem nicht getan. Wie Andrew mir seit Wochen zu erklären versucht: Es war leichter, die Wahrheit zu verbergen, als Delia weh zu tun.
    Bin ich dadurch schuldig ... oder bewundernswert?
    Das Richtige ist am Ende auch nicht immer das, was es zu sein scheint, und manche Regeln sollte man besser brechen. Aber was ist, wenn diese Regeln zufällig Gesetze sind?
    Ich gehe zum nächsten Gully und schütte die ganze Flasche aus.
    Es ist nur eine kleine Chance, aber ich glaube, ich habe soeben einen Ausweg für Andrew Hopkins ge-funden.

DELIA
    Als ich am Haus meiner Mutter ankomme, bin ich emotional am Ende. Fitz und Eric haben mich belogen; mein Vater hat mich belogen. Ich bin hierhergekommen, weil ausgerechnet meine Mutter, wer hätte das gedacht, meine letzte Zuflucht ist. Ich muß zu ihr, damit sie mir die Dinge sagt, die ich hören möchte: daß sie meinen Vater geliebt hat; daß ich die falschen Schlüsse gezogen habe; daß die Wahrheit nicht immer das ist, was du dafür hältst.
    Als ich klingele und niemand aufmacht, gehe ich hinein, denn die Tür ist nicht abgeschlossen. Ich folge ihrer Stimme einen Flur hinunter. »Besser?« fragt sie.
    »Viel besser«, antwortet ein Mann.
    Ich spähe durch eine offene Tür und sehe, wie meine Mutter einem jüngeren Mann behutsam eine Seidenkordel zubindet, die er um den Hals trägt. Als er mich sieht, erschrickt er.
    »Delia!« sagt sie.
    Der Mann wird puterrot. Offenbar schämt er sich furchtbar, mit meiner Mutter erwischt worden zu sein, wenn auch vollständig bekleidet. »Moment«, sagt sie. »Henry und ich sind gleich fertig.«
    Er zieht sein Portemonnaie aus der Hosentasche. »Gracias, Dona Elise«, brummt er und drückt ihr zehn Dollar in die Hand.
    Er bezahlt sie?
    »Und immer schön für mich die roten Socken und die rote Unterwäsche tragen. Verstanden?«
    Ja, Ma'am«, erwidert er und hastet eilig hinaus.
    Ich starre sie an, einen Augenblick sprachlos. »Weiß Victor Bescheid?«
    »Ich versuche, es geheimzuhalten.« Meine Mutter wird rot. »Ehrlich gesagt, ich war mir auch nicht sicher, wie du reagieren würdest.« Plötzlich leuchten ihre Augen. »Aber wenn du Interesse hast, bring ich es dir gern bei.«
    Erst da bemerke ich die Reihen Glasgefäße mit Blättern und Wurzeln und Knospen und Erde hinter ihr, und ich begreife, daß wir von völlig verschiedenen Dingen sprechen. »Was ... ist das alles da?«
    »Das sind meine Utensilien«, sagt sie. »Ich bin eine cu randera, eine Heilerin. Eine Art Ärztin für Leute, denen Arzte nicht helfen können. Henry zum Beispiel war vorhin schon das dritte Mal bei mir.«
    »Dann schläfst du also nicht mit ihm?«
    Sie sieht mich an, als wäre ich verrückt geworden.
    Mit Henry? Natürlich nicht. Er war zweimal im Krankenhaus, weil ihm der Hals immer wieder zu-schwillt, aber die Ärzte können einfach nichts feststellen. Als er zu mir kam, wußte ich sofort, daß er von irgendwem verhext wird - und ich

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