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Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman

Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman

Titel: Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Familien Nahrungsmittel unter ihren Behausungen vergruben, um den Hunger abzuwehren. Wir erreichen einen kleinen, staubigen Platz oben auf der Mesa, quadratisch und von eingeschossigen Häusern umgeben. Es sind keine Erwachsenen zu sehen, als wir ankommen, aber drei kleine Kinder, nicht viel älter als Sophie, kommen immer wieder aus dem Schatten zwischen den Gebäuden gerannt, um gleich darauf wieder zu verschwinden. Zwei Hunde jagen sich gegenseitig. Auf dem Dach eines Hauses sehe ich einen Steinadler. Vor ihm liegen buntbemalte Holzspielsachen und Schüsseln.
    Aus den Fenstern der Häuser schallt Musik - Indianergesänge von einer CD, Filmmelodien, Reklame. Sipaulovi hat Strom, was nicht für alle Dörfer gilt. Ruthann sagt, in Old Oraibi zum Beispiel seien die Altesten der Ansicht, wenn sie etwas von den pahanas, den Weißen, annähmen, würden die pahanas im Gegenzug etwas verlangen. Fließendes Wasser gibt es noch nicht sehr lange, sagt sie, erst seit den achtziger Jahren. Davor mußte das Wasser mit Eimern von einer Quelle ganz oben auf der Mesa geholt werden. Manchmal, wenn es regnet, tummeln sich noch Fische in den Pfützen.
    Ruthann hakt sich bei mir ein. »Kommt«, sagt sie, »meine Schwester wartet.«
    Wilma ist die Mutter von Derek, dem Jungen, den wir ein paar Wochen zuvor beim Reifentanz bewundert haben. Ich gehe mit Ruthann zu einem Haus am Rand des Dorfplatzes, einem kleinen Steingebäude mit einem Fenster nach vorne. Sie öffnet die Tür, ohne anzuklopfen, und mir weht der kräftige Geruch von Eintopf und Maismehl entgegen. »Wilma«, sagt sie, »brennt da gerade noqkwivi an?«
    Wilma ist jünger, als ich erwartet habe - allenfalls fünf oder sechs Jahre älter als ich. Sie ist dabei, einem kleinen Mädchen das Haar zu bürsten, obwohl die Kleine sich weigert stillzusitzen. Als sie Ruthann sieht, strahlt sie übers ganze Gesicht. »Was versteht eine magere alte Frau wie du schon vom Kochen?« sagt sie.
    Im Haus sind noch etliche andere Frauen, die alle farbenfrohe Hausmäntel tragen, wie ein Regenbogen. Viele von ihnen sehen aus wie Wilma und Ruthann -Schwestern, Tanten, vermute ich. An den weißen Wänden hängen geschnitzte Katsina-Puppen wie die, von denen Ruthann mir vor Wochen erzählt hat. Auf dem Fernsehapparat in einer Ecke des Raumes thronen ein Zierdeckchen und eine Vase mit Blumen aus Seidenpapier.
    »Du hättest es beinahe verpaßt«, sagt Wilma kopfschüttelnd.
    »Du kennst mich doch«, antwortet Ruthann. »Ich hab dir gesagt, ich komme, bevor die Katsinam gehen.«
    Dann führen sie ihr Gespräch in Hopi fort, und ich verstehe kein Wort mehr. Ich warte darauf, daß Ru-thann mich vorstellt, aber sie tut es nicht, und was noch seltsamer ist, niemand scheint das merkwürdig zu finden.
    Die Kleine, der das Haar gebürstet wird, ist endlich fertig und geht zu Sophie. »Willst du was malen?« fragt Nie.
    Sophie löst sich zögerlich von mir und nickt, folgt dann dem Mädchen in die Küche, wo in der Mitte eine Tasse mit zerbrochenen Buntstiften steht. Sie fangen an, auf braunem Papier zu malen, es sind Quadrate, die aus Einkaufstüten geschnitten wurden. Ich setze mich neben eine alte Frau, die aus Yuccablättern einen Ilachen Teller flicht. Als ich sie anlächele, brummt sie.
    Das Haus ist eine sonderbare Mischung aus Vergangenheit und Gegenwart: Steinschüsseln, gefüllt mit handgemahlenem blauen Maismehl, und Gebetsfedern wie die an Ruthanns Palo-Verde-Baum, aber auch Linoleumböden, Styroporbecher und Plastiktischdecken, ein Wäschekorb der Marke Rubbermaid und ein junges Mädchen, das sich die Zehennägel knallrot lackiert. Hier treffen zwei Welten aufeinander, und niemandem in diesem Raum scheint der Spagat schwerzufallen.
    Ruthann und Wilma streiten sich offenbar, was ich nur am Ton und an der Lautstärke ihrer Worte erkenne, und daran, daß Ruthann die Hände hochwirft und von ihrer Schwester zurückweicht. Plötzlich ertönt ein trillernder Schrei - eine Eule, wie ich von meinen Streifzügen in den Wäldern von New Hampshire weiß. Sogleich beginnen die Frauen zu flüstern und spähen durch die Fenster nach draußen. Wilma sagt etwas auf Hopi, und ich könnte schwören, es bedeutet so was Ähnliches wie: Na bitte, ich hab's doch gesagt.
    »Komm mit«, sagt Ruthann zu mir. »Ich führ dich ein bißchen rum.«
    Sophie ist noch immer mit Malen beschäftigt, daher folge ich Ruthann nach draußen auf den Dorfplatz. »Was ist denn los?« frage ich.
    »Morgen findet eine Zeremonie statt,

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