Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman
Bleistift hinlege, rollt er über den Rand des Felsens. Selbst in dieser absoluten Stille kann ich hören, wie meine Mutter sich für ihre Taten entschuldigt. Ich kann hören, wie mein Vater die seinen recht-fertigt. Man sollte meinen, es wäre einfacher, sie beide in nächster Nähe zu haben, aber das erleichtert es ihnen bloß, mich auseinanderzureißen. Sie buhlen beide um meine Stimme, und das so laut, daß ich mir kaum eine Meinung bilden kann.
Wieder einmal.
Ich liebe meinen Vater, und ich weiß, daß es richtig von ihm war, mit mir zu verschwinden. Aber ich bin selbst Mutter, und ich kann mir nicht mal vorstellen, daß mir mein Kind gestohlen wird. Das Problem ist, daß es hier nicht darum geht, sich zu entscheiden.
Meine Mutter und mein Vater haben beide recht.
Und gleichzeitig hatten sie beide unrecht.
Als Ruthann plötzlich hinter mir steht, fahre ich heftig zusammen. »Du hast mich erschreckt«, sage ich.
Sie sieht müde aus und setzt sich langsam neben mich auf den Boden. »Hier bin ich oft hergekommen«, sagt sie. »Wenn ich nachdenken mußte.«
Ich ziehe die Knie an. »Worüber denkst du jetzt nach?«
»Wie es ist, nach Hause zu kommen«, sagt Ruthann und blickt auf die San Francisco Peaks in der Ferne. »Ich bin froh, daß du mich so lange bearbeitet hast, bis ich dich mitgenommen hab.«
Ich grinse. »Danke.«
Sie schirmt die Augen gegen das grellrote Licht des Sonnenuntergangs ab. »Worüber hast du nachgedacht?« fragt sie.
Ich stehe auf und reiße das Blatt Papier in Stücke. »Über das gleiche wie du«, sage ich, und gemeinsam schauen wir zu, wie der Wind die Schnipsel davonträgt.
Am nächsten Morgen wimmelt der Dorfplatz schon vor Anbruch der Dämmerung von Menschen. Einige sitzen auf Metallklappstühlen, andere kauern auf den Dächern der Häuser. Ruthann folgt Wilma zu einer Stelle am Rande des Platzes unter den Überhang eines Gebäudes. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen, doch der Tanz wird den ganzen Tag dauern, und es wird brüllend heiß werden.
Sophie ist still. Sie sitzt auf meiner Hüfte und reibt sich die Augen. Sie schaut zu dem Steinadler hinauf, der noch immer an dem Dach festgebunden ist. Alle paar Minuten schlägt er mit den Flügeln und kreischt.
Als die Sonne eine Faust am Horizont ist, kommen die Katsinam in einer Reihe hintereinander aus den Kivas, den Zeremonialräumen, wo sie sich vorbereitet haben. Sie tragen Geschenke, die sie auf dem Platz aufhäufen. Da es letzte Nacht nicht geregnet hat, ist es ihnen nicht erlaubt, heute morgen etwas zu trinken, und das werden sie auch nicht, egal wie heiß es wird.
Es sind an die fünfzig - hoote-Katsinam, wie mir gesagt wird alle gleich gekleidet. Sie tragen weiße Röcke und rote Schärpen und Lendenschurze mit unterschiedlichen Mustern. Ihre Arme sind mit Bändern geschmückt, ihre Brust ist nackt. Am linken Fußknöchel sind Glöckchen befestigt, am rechten Ras-seln; ein Fuchsschwanz schwingt zwischen jedem Beinpaar. Die Körper sind mit roter Ockerfarbe bemalt und mit Maismehl bestäubt, doch der beeindruckendste Teil ihrer Kostümierung sind die Masken eine Federkrone, die an einem riesigen schwarzen Holzkopf wie Stacheln aufragt, eine Hundeschnauze, gebleckte Zähne, Insektenaugen.
Sophie vergräbt das Gesicht an meinem Hals, als sie einen Gesang anstimmen. Sie singen tief, kehlig, immer lauter. Die Katsinam drehen sich paarweise im Takt der Musik, bis ein alter Mann sich zwischen ihnen hindurchschlängelt, Maismehl verstreut und sie antreibt, wilder zu tanzen.
Ruthann tätschelt Sophie den Rücken. »Schsch, Siwa«, sagt sie. »Sie wollen dir nichts tun. Sie wollen dich beschützen.«
Als sie gut eine Stunde später mit dem Tanzen aufhören, gehen sie klimpernd zu den aufgehäuften Geschenken, die sie aus den Kivas mitgebracht haben. Sie werfen den Leuten auf den Dächern gebackene Brote zu. Sie verteilen Wassermelonen, Popcorn-Bälle, Birnen und Trauben. Sie reichen Schüsseln mit Obst, kleinen Kürbissen, Mais und Gebäck. Wilma, die seit kurzem Witwe ist, bekommt einen der größten Körbe.
Schließlich verteilen sie Geschenke an die Kinder. Die Jungen bekommen Pfeil und Bogen, umwickelt mit Schilf und Maisstengeln, die Mädchen Katsina-
Puppen, die mit Wacholderzweigen verschnürt sind. Einer der Tänzer, dem der Schweiß an den Armen und an den Seiten herabströmt, huscht über den Platz auf uns zu. Er hat in den Händen zwei Katsina-Puppen, deren bemalte Gesichter in der Sonne glänzen. Er reicht
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