Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman
Ruthann ist.
Ich weiß besser als die meisten, wie es ist, wenn jemand anderer für dich Entscheidungen trifft, obwohl du es verdient hättest, sie allein zu treffen.
Ich blicke zu Ruthann hoch und nicke kaum merklich.
Sie lächelt mich an, und so bin ich ihre Zeugin - als sie das Hochzeitsgewand von ihren schmalen Schultern nimmt und es sich über den Rücken hält wie die breiten Schwingen eines Bussards. Als sie über den Klippenrand tritt und in die Geisterwelt aufsteigt. Als die Eulen ihren Körper zum zerklüfteten Boden tragen.
Sobald mein Handy Empfang hat, rufe ich die Stammespolizei an und gebe durch, wo Ruthanns Leichnam zu finden ist. Ich lasse Greta von der Leine und werfe ihr den Stoffelch zu, als Belohnung für ihre erfolgreiche Suche.
Ich werde niemandem erzählen, was ich gesehen habe. Ich werde niemandem sagen, daß ich eine Chance gehabt hätte, sie aufzuhalten. Statt dessen werde ich sagen, daß Greta und ich sie so gefunden haben. Der Polizei sage ich, daß ich höchstens ein paar Minuten zu spät gekommen sein muß.
Dabei bin ich genau zur rechten Zeit dagewesen.
Dann nehme ich mein Handy und wähle eine andere Nummer. »Bitte hol mich ab«, sage ich, als er sich meldet, und es dauert eine Weile, bis ich die restlichen Worte finde, die ich brauche - wo ich bin, wo er ist, wann er hier sein kann.
Gestern morgen, vor dem Heimkehrtanz, als der Steinadler noch auf dem Dach saß und auf die Katsinam wartete, gesellte sich ein zweiter Adler zu ihm. Die beiden Vögel verbrachten den Nachmittag in friedlicher Eintracht miteinander. Ruthann hat gesagt, daß das gelegentlich passiert: Die Mutter des Adlers kommt zu Besuch. Und gegen Abend fliegt sie wieder davon, läßt ihren Sohn tun, was er zu tun hat.
Ich frage mich, ob die Adlermutter noch einmal zurück ins Dorf kommt und sieht, daß ihr Sprößling nicht mehr da ist. Ich glaube nicht. Ich glaube, sie weiß, daß sie ihn an einem besseren Ort suchen muß.
Louise Masäwistiwa trifft am Abend in Sipaulovi ein. Sie trägt ein Businesskostüm, das dicke schwarze Haar zu einem schicken Bubikopf geschnitten, und der Unterschied zu ihrer Mutter könnte nicht größer sein.
Sie sitzt an Wilmas Küchentisch, die Hände um eine Tasse Tee, als ich hereinkomme. Ihre Augen sind rot. Sie hat die gleichen Gesichtszüge wie Ruthann. »Sie müssen die Frau sein, die sie am Tawaki gefunden hat«, nagt sie.
Ich habe inzwischen erfahren, daß die Stelle, an der Ruthann Selbstmord begangen hat, wegen der Fels-zeichnungen, von denen einige schon 750 Jahre vor Christus entstanden sind, archäologisch wertvoll ist und nur mit einer Sondererlaubnis betreten werden darf. Über das Becken gegenüber den Klippen gelangt man zum Walnut Canyon und den Felsenbehausungen. »Es tut mir leid«, sage ich zu Louise.
»Sie hat sich nie behandeln lassen. Sie hat das nur gesagt, damit ich nicht wieder mit ihr streite. Ich habe mich mit ihr über alles gestritten.«
Louise zupft ein Papiertaschentuch aus der Packung auf dem Tisch, betupft die Augen und putzt sich die Nase. »Vor vier Monaten wurde bei ihr ein Knoten in der Brust entdeckt. Sie wurde noch in derselben Woche operiert. Es war ein aggressiver Tumor, aber die Ärzte glaubten, mit einer Chemo und mit Bestrahlung würden sie die Sache unter ihre Kontrolle bringen. Ich hätte ihnen gleich sagen können, daß sie dazu erst einmal meine Mutter unter ihre Kontrolle hätten bringen müssen, und das hat noch keiner geschafft.«
»Ich glaube«, sage ich behutsam, »Ruthann hat gewußt, was sie wollte.«
Louise starrt auf das karierte Plastiktischtuch. Eine Handvoll Pennies liegen verstreut auf den roten Quadraten. Sie nimmt ein paar auf, umschließt sie mit der Faust. »Meine Mutter hat mir beigebracht, Münzen zu zählen«, sagt sie leise. »Ich hab das zuerst einfach nicht in den Kopf gekriegt. Ich hab gedacht, die kleineren wären immer weniger wert als die größeren. Aber meine Mutter hat nicht aufgegeben. Sie hat mir die Augen dafür geöffnet, daß auch etwas Kleines Größe haben kann.« Louise wischt sich erneut die Augen. »Tut mir leid. Aber ... es ist doch auch verrückt, oder, daß es immer heißt, Kinder gehören zu ihren Eltern, wo es doch eigentlich umgekehrt ist.«
Sophie und ich stehen am Rand der Second Mesa unter dem Schatten eines kreisenden Bussards. »Es bedeutet«, erkläre ich, »daß Ruthann nicht mehr bei uns ist.«
Sie blickt zu mir hoch. »Ist sie da, wo Grandpa ist?«
»Nein. Grandpa kommt
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