Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman
wieder«, sage ich, obwohl ich nicht weiß, ob das stimmt. »Wenn jemand stirbt, bedeutet das, er geht weg, für immer.«
»Ich will aber nicht, daß Ruthann weggeht.«
»Ich auch nicht, Soph.«
Ich strecke die Hände nach ihr aus und ziehe sie in meine Arme, weil ich das brauche. Sie wickelt sich um mich, die Lippen an mein Ohr gepreßt. »Mommy«, sagt sie, »ich will überall hin, wo du hingehst.«
Habe ich das mal gesagt, zu meiner Mutter?
Als ich Schritte höre, drehe ich mich um. Fitz kommt langsam auf uns zu, unsicher, ob er stören soll.
»Danke, daß du gekommen bist«, sage ich, und meine Worte klingen zu förmlich.
»Ich war dir was schuldig«, antwortet Fitz.
Ich blicke nach unten auf die Erde. Er fragt nicht, was passiert ist. Er fragt nicht, warum ich ihn angeru-fen habe und nicht Eric. Er weiß, ohne daß ich es aussprechen muß, daß ich auch darüber noch nicht reden kann. »Ich weiß, ich hab gesagt, du sollst dich zum Teufel scheren«, sage ich, »aber ich bin froh, daß du nicht auf mich gehört hast.«
»Delia, diese Zeitungsstory -«
»Weißt du was?« falle ich ihm ins Wort, und meine Stimme bricht mir fast weg. »Im Augenblick brauche ich keinen Journalisten. Aber ich könnte wirklich einen Freund gebrauchen.«
Er zieht die Schultern hoch. »Ich habe Referenzen.«
Ich lächle ihn an, eine Brücke zwischen uns. »Zufällig«, gestehe ich, »bist du der einzige Bewerber.«
Wir sind gerade in den Wagen gestiegen, um zurück nach Phoenix zu fahren, als es plötzlich schneit, eine verrückte Laune der Natur. Die ersten Flocken tauen weg, dann bleibt der Schnee liegen. Hunde tollen herum, Kinder stapfen auf den Platz, wo sie Schnee-llocken mit der Zunge fangen. Derek und Wilma, die bei den Vorbereitungen für Ruthanns Beerdigung sind, blicken zum Himmel hinauf. Für sie und die Leute von Sipaulovi ist das der Beweis, daß Ruthann es in die Geisterwelt geschafft hat.
Aber ich glaube, es könnte auch ein Zeichen für mich sein. Denn während Fitz von Second Mesa in
Richtung Phoenix fährt, nimmt der Schnee zu, bedeckt die Motorhaube und die Windschutzscheibe und die Mesas und den Highway, bis das Land so weiß ist wie das Gewand einer Hopibraut, so weiß wie ein Wintermorgen in New Hampshire. Als Kind stand ich oft am Fenster, wenn es schneite, und schaute zu, wie das riesige Tuch aus Schnee unser Haus und die Häuser von Eric und Fitz einhüllten, wie das Tuch eines Zauberers. Man konnte so tun, als wäre darunter alles verschwunden - Sträucher und Gehwege und Fußbälle, Hecken und Zäune und Mauern. Man konnte so tun, als müßte der Zauberer nur sein Tuch wegziehen und die ganze Welt könnte von vorn anfangen.
Ich glaube, Fitz ist nicht überrascht, als ich ihn bitte, einen kleinen Umweg zu machen. Er wartet mit Sophie und Greta, die beide fest auf dem Rücksitz schlafen, auf dem Parkplatz. »Laß dir Zeit«, sagt er, als ich aussteige und ins Gefängnis gehe.
Nur ein anderer Insasse hat noch Besuch. Mein Vater nimmt auf seiner Seite der Plexiglasscheibe Platz und hält sich den Hörer ans Ohr. »Ist alles in Ordnung?«
Ich betrachte ihn in seiner gestreiften Montur, die linke Hand bandagiert und eine verkrustete Wunde an der Schläfe, und dauernd schaut er mit einem nervösen Zittern zur Seite, als fürchte er eine Gefahr von hinten, und ich kann nicht fassen, daß er mir die Frage stellt.
»Ach, Daddy«, sage ich, und es kommen alle Tränen auf einmal.
Er ballt eine Hand zur Faust und rupft dann aus der Mitte ein Papiertaschentuch hervor - ein Zaubertrick. Doch dann fällt ihm ein, daß er mir das Taschentuch durch die Trennscheibe zwischen uns ja gar nicht geben kann. Er lächelt schwach. »Den Trick hab ich leider noch nicht gelernt.«
Wenn der Tag nicht so furchtbar gewesen wäre, hätte ich auf der Fahrt vom Gefängnis nach Hause vielleicht bemerkt, daß Fitz immer stiller geworden ist. Aber ich war in Gedanken ganz bei Ruthann und meinem Vater. Erst als wir vor dem Trailer halten und ich Erics Wagen sehe, überkommt mich Panik. Vor zwei Tagen, die mir vorkommen wie zweihundert, hatte ich ihn einfach im Krankenhaus stehenlassen, wütend, weil er einen Job macht, um den ich ihn gebeten habe. »Komm mit rein«, flehe ich Fitz an, wende mich an ihn, wie immer, wenn ich Unterstützung brauche.
» Ich kann nicht.«
»bitte, bitte«, bettele ich. Ich werfe einen Blick auf den Rücksitz, wo Sophie noch immer leise neben dem Hund schnarcht. »Du kannst sie reintragen.«
Fitz
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