Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman
nicht, daß irgend jemand mitkommt - keine Eskorte der Stammespolizei -, daher lasse ich Greta heimlich an einer Bluse aus Ruthanns Koffer Witte-rung aufnehmen. Noch bevor ich das Kommando geben kann, zieht der Bluthund auch schon an der Leine. Während Wilma mit den Cops spricht und Derek bei Sophie und seiner kleinen Schwester Babyalter spielt, schleichen Greta und ich uns unbemerkt davon.
Wir bewegen uns über gelbe Erde, die von tiefen Rissen durchfurcht ist. Wir steigen vorsichtig über Fels-blöcke, die von den Kämmen der Mesas heruntergestürzt sind. An manchen Stellen sind in der weichen Staubschicht, die die Erde überzieht, Fußabdrücke zu sehen; hier und da ist der Zweig eines Strauches zur Seite gedrückt oder eine Pflanze flach getreten. Streckenweise hat Ruthann nur ihren Geruch hinterlassen.
Ruthann ist hier allen möglichen Gefahren ausgesetzt - Dehydrierung, Sonnenstich, Schlangen, Verzweiflung. Der Gedanke, daß ihre Bergung allein in meinen Händen liegen könnte, jagt mir Angst ein, doch gleichzeitig bin ich auch erleichtert, wieder meiner Arbeit nachzugehen. Ich bin auf der Suche nach jemandem, was nur bedeuten kann, daß ich nicht mehr diejenige bin, die sich verirrt hat.
Plötzlich bleibt Greta abrupt stehen und gibt Laut. Sie läuft mit großen Sprüngen los, zerrt mich hinter sich her, während ich über Steine und Wacholderbüsche springe, um mitzuhalten. Sie biegt auf einen holperigen Weg für Geländefahrzeuge und führt mich hinunter in einen kleinen Canyon.
Wir sind auf drei Seiten umgeben von nackten Felswänden. Greta steuert langsam auf die Klippe zu, die Nase dicht über der rissigen Erde. Meine Schuhe treten auf Keramikscherben und abgebrochene Pfeilspitzen und Eulenkot. Auf dem Felsen sind Markierungen: Spiralen, Sonnen, Schlangen, Vollmonde, konzentrische Kreise. Ich fahre mit den Fingern über Figuren mit Speeren, über Dickhornschafe, über Jungen, die etwas hochhalten, das aussieht wie eine Blume, über Mädchen, die versuchen, sie ihnen wegzuschnappen; über Zwillinge, die durch eine wellige Nabelschnur miteinander verbunden sind. Hunderte von Zeichnungen, dicht an dicht, die vor tausend Jahren in den Stein gemeißelt worden sind. Mir fällt eine Strichfigur auf, die ein Vater oder eine Mutter sein muß, denn sie hält eine kleinere Figur an der Hand, ein Kind.
»Ruthann!« rufe ich, und ich meine, eine Antwort zu hören.
Greta bleibt am Rand einer kleinen Felsspalte stehen und scharrt jaulend mit den Pfoten, um Halt zu finden. »Bleib«, befehle ich und hieve mich auf einen schmalen, etwa einen Meter zwanzig hohen Vorsprung. Von dort sehe ich einen weiteren Felsbuckel, auf dem ich sicher den Fuß aufsetzen kann. Ich klettere los.
Als ich mich schon so tief in die Spalte hineingearbeitet habe, daß ich Greta nicht mehr sehen kann, bemerke ich die Felszeichnung: eine Frau, mit Brüsten und wallendem Haar. Sie steht auf dem Kopf, der vom Körper durch eine lange Wellenlinie getrennt ist. In der gegenüberliegenden Felswand sind eine Reihe von Kerben, exakt gemeißelt. Es ist ein Kalender, wird mir klar, für die Sonnenwende. An einem bestimmten Tag trifft die Sonne genau auf diese Stelle, und ein Licht-strahl durchschneidet den Hals der fallenden Frau.
Ein Opfer.
Steinchen regnen herab, und als ich nach oben Micke, sehe ich, wie Ruthann an den Rand der Klippe tritt, etwa viereinhalb Meter über mir. Ihr Körper ist eng eingehüllt in ein blütenweißes Gewand.
»Ruthann!« rufe ich, und meine Stimme prallt von den Felswänden ab.
Sie schaut zu mir hinunter. Über die kurze Entfernung treffen sich unsere Blicke.
»Ruthann, tu's nicht«, flüstere ich, doch sie schüttelt den Kopf.
Es tut mir leid.
In dieser halben Sekunde denke ich an Wilma und Derek und mich, an all die Menschen, die nicht zurückgelassen werden wollen, die glauben, sie wüßten, was für Ruthann am besten ist. Ich denke an die Ärzte und an die Medikamente, die Ruthann ganz bewußt nie genommen hat. Ich denke, daß ich sie vielleicht überreden könnte, von dem Klippenrand herunterzusteigen, so, wie es mir schon einige Male bei anderen potentiellen Selbstmördern gelungen ist. Doch jetzt, hier, ist das Richtige subjektiv. Ruthanns Angehörige, die möchten, daß sie lebt, werden nicht ihre Haare von der Chemotherapie verlieren, müssen sich nicht die Brust abnehmen lassen, müssen nicht langsam sterben. Es ist leicht zu sagen, daß Ruthann von der Klippe herunterkommen soll, wenn man nicht
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