Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman

Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman

Titel: Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
Vom Netzwerk:
soll - nein. Ich glaube, ich fahre einfach hin. So kann ich ihre erste Reaktion sehen ... kannst du in der Zeit auf Sophie aufpassen?«
    Bevor ich antworten kann, knallt auch schon die Trailertür hinter Dee zu. Greta blickt zu mir hoch und klopft erwartungsvoll mit dem Schwanz auf den Boden.
    Ich hole meine Notizen über die Anklageeröffnung aus der Tasche, zerreiße sie in winzige Konfettistücke. Ich sage meiner Chefredakteurin, mein Flug hätte Verspätung gehabt, ich hätte mich auf dem Weg zum
    Gericht verfahren, ich hätte eine Magengrippe bekommen, was auch immer. Ich werfe die Schnipsel in die Luft, stelle mir vor, wie der Wind sie in die Wüste bläst.
    Doch statt dessen wehen sie über das Tor am Eingang des Trailerparks auf den Gehweg. Sie treffen auf einen Mann, der am Straßenrand steht. Ich rufe ihm eine Entschuldigung zu und erkenne dann, daß es derselbe Mann ist, den ich an der Ampel gesehen habe. Er hält den heranbrausenden Autos wieder sein Pappschild entgegen: BRAUCHE HILFE.
    Diesmal gehe ich zu ihm. »Viel Glück«, sage ich und drücke ihm zwanzig Dollar in die Hand.

DREI
    Denn nichts ist so augenfällig oder bleibt so fest im Gedächtnis verhaftet wie das, was uns anstößig gewesen ist.
    CICERO

DELIA
    Vor Jahren las ich, daß jemand genetische Komponenten für gute Mutterschaft entdeckt hatte. Die Gene Mest und Peg3 liegen auf dem Chromosom 19 und funktionieren paradoxerweise nur, wenn sie vom Vater ererbt sind. Eine solche Prägung findet sich in der Evolution für gewöhnlich aufgrund eines genetischen Geschlechterkampfes. Es liegt im Interesse des Weibchens, mehrmals zu werfen, doch es liegt im Interesse des Männchens, das Kind zu beschützen, das bereits geboren ist.
    Diese Erkenntnisse gelten zwar noch nicht als gesichert, aber ich glaube an sie. Ich muß lediglich an Sophie denken, und daran, daß ich gern bestimmte Merkmale von ihr für alle Zeit in Bernstein einschließen würde: ihre Munchkin-Stimme oder ihre schillernden, rosa Fingernägel oder ihr Xylophon-Lachen. Ich kann wohl getrost davon ausgehen, daß ich dieses Gefühl von meinem Vater habe, der mir ein Bewußtsein für die Dinge vermittelt hat, die wir bewahren wollen.
    Das Haus meiner Mutter ist klein und adrett, und es schwimmt auf einem Meer aus weißen Steinen. Vorn an der Zufahrt ist ein Briefkasten mit der Aufschrift VASQUEZ. Ich bleibe vor einem Saguaro-Kaktus stehen, der mindestens drei Meter hoch ist und einen Arm erhoben hat, mit dem er freundlich winkt. Ruthann sagt, es dauert fünfzig Jahre, bis an einem Saguaro auch nur ein einziger Arm sprießt. Sie sagt, er hat so leuchtende und wunderschöne Blüten, daß sie schon Spatzen zum Weinen gebracht haben sollen.
    Ich streiche mir erneut mit der Hand über die Haare. Nachdem ich sie erst nach hinten gesteckt und zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, habe ich doch beschlossen, sie auf die Schultern fallen zu lassen - sie wird sich doch bestimmt daran erinnern, wie sie mir das Haar gebürstet hat, als ich klein war? Ich trage das dunkelblaue Kleid, das ich bei unserer übereilten Abreise in den Koffer geworfen habe, um es im Gerichtssaal zu tragen. Ich streiche den Rock glatt, wünschte, ich könnte die zerknitterten Stellen mit Hilfe von Willensanstrengung verschwinden lassen. Ich hole ein paarmal tief Luft.
    Wie betrittst du das Leben eines anderen nach achtundzwanzig Jahren? Wo fängst du an, wenn du zu klein warst, um noch zu wissen, an welchem Punkt ihr aufgehört habt?
    Um mir Mut zu machen, kehre ich die Rollen versuchsweise um: Was, wenn Sophie nach so langer Zeit zu mir käme? Ich kann mir keine Umstände vorstellen, in denen ich nicht augenblicklich eine innere Nähe zu ihr spüren würde, und ich bin jetzt ungefähr ebenso lang Teil von Sophies Leben, wie meine Mutter damals Teil meines Lebens war. Es würde mich nicht kümmern, ob sie gepierct, kahlgeschoren, arm, reich, verheiratet, lesbisch ... was weiß ich ... wäre, Hauptsache, sie wäre wieder da.
    Also, wieso mache ich mir solche Gedanken über den ersten Eindruck?
    Ich beantworte mir die Frage selbst: Weil das hier nur ein einziges Mal passiert. Jedesmal danach bist du nur damit beschäftigt wiedergutzumachen, was während der ersten Begegnung geschehen ist.
    Ich stehe da und frage mich, ob ich je den Mut aufbringen werde zu klopfen, als die Tür plötzlich wie von selbst aufschwingt.
    Die Frau kommt rückwärts aus dem Haus. Sie trägt eine verwaschene Jeans und eine bestickte Bluse, und sie

Weitere Kostenlose Bücher