Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman
Anbetracht der Umstände.«
»Vielleicht machst du so etwas ja gerade deshalb«, gibt meine Mutter zu bedenken. Sie faltet die Hände im
Schoß, und wir blicken einander wieder kurz an. »Du lebst in New Hampshire ...?«
»Ja. Schon immer-«, sage ich, ehe mir klar wird, daß das nicht stimmt. »Jedenfalls die längste Zeit.« Ich krame in meiner Tasche nach dem Foto von Sophie, das ich mitgebracht habe, und reiche es ihr. »Das ist deine Enkelin.«
Sie nimmt das Bild entgegen und studiert es. »Eine Enkelin«, wiederholt meine Mutter.
»Sophie.«
»Sie sieht aus wie du.«
»Und Eric. Mein Verlobter.«
Ich hatte gehofft, das Wiedersehen mit meiner Mutter würde sozusagen ein Schleusentor öffnen und alle meine Erinnerungslücken würden gefüllt. Ich hatte gehofft, mein Gedächtnis würde reflexartig reagieren, so daß mir, wenn ich das Lachen meiner Mutter höre oder ihr Lächeln sehe oder ihre Berührung spüre, alles vertraut vorkäme anstatt neu. Aber nach der anfänglichen Umarmung sind wir wieder das, was wir in Wirklichkeit sind: zwei Menschen, die sich soeben erst begegnet sind. Wir können uns unsere Vergangenheit nicht zurückholen, weil wir noch nicht einmal gemeinsamen Boden erreicht haben.
Jahrelang hatte ich im Kopf ein Bild von meiner Mutter entworfen, aus Bruchstücken, die ich aus dem Leben anderer Menschen stahl: eine Frau, die im Freibad im Wasser stand und versuchte, ihre kleine Tochter am Beckenrand zu überreden, in ihre Arme zu springen; eine Märchenfigur, die tragisch jung starb; Meryl Streep in Sophies Entscheidung. Jede dieser Frauen hätte ich auf der Stelle erkannt. Jede dieser Frauen hätte gewußt, wie mein bisheriges Leben ausgesehen ha,t. In keiner meiner Fantasievorstellungen hatte ich eine Spanisch sprechende Mutter oder eine, die wieder verheiratet oder verlegen war. In keiner meiner Fantasievorstellungen war sie eine Wildfremde.
Wenn die eigene Mutter aus Träumen besteht, ist die Realität zwangsläufig enttäuschend.
»Wann ist die Hochzeit?« fragt sie höflich.
»September.« Zumindest war es so geplant. Ich war natürlich davon ausgegangen, daß mein Vater mich zum Altar führt und in das andere Leben entläßt. Aber da wußte ich noch nicht, daß er vielleicht ins Gefängnis muß, weil er genau das nicht kann: mich loslassen.
»Victor und ich haben dieses Jahr Silberhochzeit«, sagt meine Mutter.
»Habt ihr Kinder?«
Sie schüttelt den Kopf. »Ich konnte nicht.« Meine Mutter blickt auf ihre Hände. »Dein Vater ... hat er wieder geheiratet?«
»Nein.«
Sie hebt den Blick und schaut mich an. »Wie geht es Charles?«
Es klingt seltsam, wenn jemand diesen Namen für ihn benutzt. »Er ist im Gefängnis«, sage ich knapp.
»Das habe ich nie gewollt. Ich will nicht lügen -es gab eine Zeit, da war ich so wütend auf ihn, weil er dich mir weggenommen hat, daß ich ihn gern lebenslang hinter Gitter geschickt hätte - aber das ist so lange her. Das einzige, was mich interessiert hat, als ich den Anruf bekam, sie hätten ihn gefunden, warst du.«
Ich stelle mir vor, wie sie damals in der Einfahrt dieses Hauses gestanden hat, obwohl ich weiß, daß ich meine ersten Lebensjahre nicht hier verbracht habe.
Ich stelle mir ihren Gesichtsausdruck vor, als sie begreift, daß ich nicht zurückkomme. Ich sehe ihr Gesicht, es hat meine Züge.
Meine Mutter blickt mich eindringlich an. »Kannst du dich ... an irgendwas erinnern?« fragt sie. »Von früher?«
»Manchmal habe ich Träume«, sage ich. »In einem geht es um einen Zitronenbaum. Und in einem anderen komme ich in eine Küche, und alles ist voller Glasscherben.«
Meine Mutter nickt. »Da warst du drei«, sagt sie. »Das war kein Traum.«
Zum ersten Mal ist jemand in der Lage, mir eine Erinnerung zu bestätigen, auf die ich mir keinen Reim machen konnte, und ich spüre, wie die Kraft aus meinen Armen und Beinen weicht.
»Dein Vater und ich, wir hatten an dem Abend Streit«, sagt meine Mutter. »Davon bist du wach geworden.«
»War ich der Grund für eure Scheidung?«
»Du?« Sie wirkt verblüfft. »Du warst das Beste in unserer Ehe.«
Die nächste Frage brennt sich einen Weg meine Kehle hinauf, und die Worte dringen aus meinem Mund wie Feuer. »Ist er deshalb mit mir fort?«
Genau in diesem Moment kommt Victor mit einem Tablett herein, darauf ein Krug Eistee und riesige Kekse bestreut mit Puderzucker. Unter dem Arm hat er einen Schuhkarton. »Ich dachte, den hättest du vielleicht gern«, sagt er und reicht
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