Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman
Achseln. »Du brennst Schnaps, nicht?« Brot, Orangen, Bonbons - als Apotheker kann ich mir die chemische Reaktion denken, auf die Concise es angelegt hat.
»Kümmer dich um deinen Kram«, knurrt Concise und hantiert wieder unter der Pritsche herum.
Ich nehme mein Handtuch und gehe in den Waschraum. Die Duschkabinen sind um diese Uhrzeit leer. Die Kochsendung mit Emeril Lagasse fängt gleich an, die einzige, die alle Knackis gleich welcher Hautfarbe gucken, ohne sich in die Haare zu kriegen. Ich biege in den Waschraum und sehe Elephant Mike an der Wand stehen, die Hose heruntergelassen, die Augen zur Decke gedreht.
Ich erkenne auch den Jungen, der vor ihm kniet. Er nennt sich Clutch und hat noch Flaum im Gesicht. Zweifellos hat er genau wie ich die Warnung von Sticks und Elephant Mike erhalten, bevor sie ihm ihren Schutz angeboten haben. Aber den gibt's nicht umsonst. Clutch zahlt gerade.
Ich spüre, wie mir die Röte ins Gesicht steigt, »'tschuldigung«, presse ich heraus und mache auf dem Absatz kehrt.
Im Fernsehen wirft Emeril schwungvoll Knoblauch in brutzelndes Ol. Ich suche mir hinten im Tagesraum einen freien Stuhl und tue so, als würde ich fernsehen.
Wenn man Sheriff Jack dreißig Dollar im voraus gibt, kann man sich für den Betrag Luxusartikel aus dem Knastladen bestellen. Einen Dollar fünfzig zum Beispiel kostet eine Flasche Shampoo oder ein halber Liter Sodawasser. Man kann Seife kaufen, Antihistamine und Pokerkarten und ein Spanischwörterbuch. Man kann Kekse und Schokoriegel und Nüsse kaufen. Thunfisch, Zahnbürsten, Taschenbücher.
Es gibt sogar künstliche Tränenflüssigkeit als Augentropfen. Aber Tränen haben die Insassen ja wohl genug eigene.
Ich teile ein Klo mit einem Drogenhändler. Ich habe Geschäfte mit einem wegen dreifacher Vergewaltigung Verurteilten gemacht: drei Packungen Kekse gegen ein Kartenspiel. Ich gucke Fernsehen neben einem Mann, der seine Frau getötet und mit einem Ginsu-Messer in Stücke geschnitten hat, bevor er die Teile in einen großen Werkzeugkasten packte, den er dann irgendwo in der Wüste abstellte.
Erst vor kurzem habe ich mit Sophie darüber geredet, daß sie sich vor Fremden hüten soll: Nimm keine Süßigkeiten von Unbekannten an, steig zu niemandem ins Auto, sprich nicht mit Leuten, die du nicht kennst. Sophie konnte die Warnungen nicht verstehen. »Woher weiß ich denn, wer böse ist?« fragte sie. »Kann man das sehen?«
Ich hätte ihr antworten sollen: Ja, aber nur wenn du im richtigen Augenblick hinsiehst. Weil es sein kann, daß dich derselbe Mann, der mit vorgehaltenem Messer eine Ladenkasse ausgeraubt hat, an der Ampel anlächelt. Weil es sein kann, daß der Typ, der eine Dreizehnjährige vergewaltigt hat, beim Gottesdienst neben dir sitzt und laut die Kirchenlieder singt. Weil es sein kann, daß der Vater, der seine Tochter gekidnappt hat, direkt nebenan wohnt.
Irgendwo rechts höre ich jemanden pinkeln. Untermalt wird das Geräusch durch leises Schaben auf dem Zementboden, als würde eine Waffe geschliffen - vielleicht eine Stichwaffe aus einer Zahnbürste oder einer Rollstuhlspeiche. In der Zelle neben unserer weint Clutch wie jeden Abend, seit er hier ist, ins Kopfkissen, tut so, als könnte ihn niemand hören. Noch verblüffender ist, daß wir übrigen so tun, als würden wir ihn nicht hören.
»Concise«, flüstere ich.
»Ja«, sagt er.
Ich merke, daß ich eigentlich gar nichts zu ihm sagen will. Ich wollte bloß wissen, ob er noch wach ist - wie ich.
Du kommst mich fast jeden Tag besuchen. Wir sitzen eine Glasscheibe voneinander getrennt, müssen erst wieder eine gemeinsame Sprache finden.
Unsere Gespräche sind nicht etwa ernst oder aufbrausend oder voller Emotionen, wir sprechen über die Kleinigkeiten. Ich sauge die Bilder in mich auf, wenn du mir erzählst, wie Sophie sich selbst Frühstück machen wollte und dafür eine Packung Haferflocken in die Mikrowelle gestellt hat. Ich stelle mir den rosa Trailer vor, in dem ihr wohnt. Ich lausche gebannt, als du mir von Gretas erster Begegnung mit einer Schlange erzählst. Du zeigst mir Bilder, die Sophie gemalt hat, von ihrer Strichmännchenfamilie mit mir in der Mitte.
Auch ich erzähle dir von einer Welt, an die du dich kaum erinnern kannst. Manchmal schildere ich dir besondere Ereignisse aus deiner Kindheit. Manchmal stellst du konkrete Fragen. Als du wieder mal bei mir bist, willst du deinen richtigen Geburtstag wissen. »Der 5. Juni«, sage ich. »Du bist fast ein ganzes Jahr
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