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Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman

Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman

Titel: Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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rufe ich, und während ich weiter Richtung Dusche manövriert werde, sehe ich, wie der Junge den Kopf dreht, als er seinen Namen hört.
    Im Knast verpassen sich alle gegenseitig irgendwelche Namen: Forty Ounce, Baby G, Buddha, C Bone, Half Dead, Deuce, Trigga, Tastee Freak. Preacher, Snow-man, Floater, Alley Cat, Huero, Demon, Little Man, Tavom Thumper. Bow How, Pinhead, Boo Boo, Icha-bud. Chigao Bull, Pit Bull, Slim Jim, Die Hard.
    Im Knast erfindet jeder sich neu. Man würde niemanden jemals mit einem anderen Namen anreden als mit dem, den er im Knast bekommen hat. Sonst könntest du ihn an den Menschen erinnern, der er mal war.
    Am Abend liegt der ganze Trakt wie unter einer Käseglocke. Als das Licht ausgeschaltet wird, sind fast alle Gespräche verstummt. Concise liegt auf der oberen Pritsche. »Mike ist für eine Woche in verschärfter Einzelhaft«, sagt er.
    Verschärfte Einzelhaft bedeutet, daß man nicht nur in einer winzigen Einzelzelle ohne Hofgang hockt, sondern obendrein in den Genuß einer speziellen Verpflegung kommt - alle Tagesmahlzeiten werden samt Getränken zusammengemischt. Das ist die Strafe für einen Angriff auf das Wachpersonal, den Besitz einer selbstgebastelten Klinge, das Bewerfen anderer mit Blut oder Körperflüssigkeiten.
    »Was ist passiert?« frage ich
    Concise dreht sich auf die Seite. »Clutch hat sich für dich eingesetzt. Ich wette, der zählt die sieben Tage genauso ab wie Mike. Denn am achten Tag knöpft Mike ihn sich garantiert vor.«
    In dieser Gesellschaft wird nicht belohnt, wer die Wahrheit sagt, sondern wer die richtigen Leute belügt.
    »Einer von den Aufsehern hat gesagt, du kommst vielleicht in Einzelhaft«, sage ich einen Augenblick später.
    Concise seufzt. »Ja, was soll's. Die haben mich schon ein paarmal beim Fuselbrennen erwischt, wenn sie meine Zelle gefilzt haben.«
    Einzelhaft ist schlimmer, als er zugibt.
    »Morgen früh ziehst du um«, sagt Concise dann. »Clutch hat jetzt in seiner Zelle ein Bett frei. Ich kann auf diesen Scheiß gut verzichten.«
    Einige Minuten später fängt Concise an zu schnarchen. Ich schließe die Augen und lausche den Geräuschen in unserem Trakt. Es dauert eine Weile, doch dann merke ich, was fehlt: Es ist das erste Mal, seit ich hier bin, daß Clutch sich nicht in den Schlaf weint.
    »Wäsche!« Jeden Morgen, wenn dieser Ruf erschallt, können wir Handtücher, Shorts, Laken oder unsere Kleidung gegen frische austauschen. Als ich mich auf den Weg mache, um mir saubere Wäsche zu holen, werfe ich einen Blick in Clutchs Zelle und sehe, daß er noch schläft, zusammengerollt auf der Seite, die Bettdecke bis ans Gesicht gezogen. »Clutch«, ertönt es über Lautsprecher. »Clutch, raus aus den Federn.«
    Als er nicht reagiert, geht die Aufseherin in die Zelle. »Clutch«, höre ich sie sagen, und dann brüllt sie nach einem Arzt.
    Alle müssen in die Zellen, solange die Sanitäter da sind. Sie können keine Wiederbelebungsmaßnahmen einleiten, weil sie den Socken nicht herausbekommen, der tief in Clutchs Kehle gestopft wurde. Kurz darauf erklärt ihn einer der Anstaltsärzte für tot.
    Als die Trage mit Clutchs Körper an unserer Zelle vorbeikommt, frage ich die Sanitäter: »Wie war sein Name?«, aber keiner antwortet. »Wie war sein richtiger Name?« brülle ich. »Kennt denn hier keiner seinen richtigen Namen?«
    »He«, sagt Concise. »Reg dich ab, Mann.«
    Aber ich will mich nicht beruhigen. Ich ertrage den Gedanken nicht, daß unter anderen Umständen ich auf dieser Trage liegen könnte. Bedeutet Schicksal, daß man bekommt, was man verdient, oder daß man verdient, was man bekommt?
    Concise wirft mir einen Blick zu. »Es ist besser so für ihn, glaub mir.«
    »Es ist meine Schuld.« Ich blicke ihn an, kämpfe gegen die Tränen. »Ich hab dem Aufseher gesagt, er soll mit Clutch reden.«
    »Wenn es nicht so passiert wäre, dann irgendwie anders. Irgendwann.«
    Ich schüttele den Kopf. »Wie alt war er? Siebzehn, achtzehn?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Wieso nicht? Wieso hat ihn nicht mal einer gefragt, wo er herkommt oder was er werden wollte oder -«
    »Weil wir alle wissen, wie die Geschichte endet. Mit einem Socken im Hals oder einer Kugel im Bauch oder einem Messer im Rücken.« Concise starrt mich an. »Manche Geschichten will einfach keiner hören.«
    Ich sinke auf die Pritsche, weil ich weiß, daß das stimmt.
    »Willst du die Geschichte von Clutch hören?« sagt Concise verbittert. »Es war einmal ein kleiner Junge, der in New

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