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Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman

Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman

Titel: Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Tinte in seiner Pranke.
    Aber der Aufseher würdigt Inker keines Blickes. Er läuft weiter zur oberen Ebene, wo die Zellen sind. Ich hab ein komisches Gefühl, stehe auf und laufe ihm nach.
    Als ich meine Zelle erreiche, hat der Aufseher das Bettzeug in einem Haufen auf den Boden geworfen und die Matratzen von den Pritschen gerissen. Er kippt meine kleine Kiste mit Seife, Zahnbürste, Postkarten, Stiften aus. Dann greift er unter die Pritsche nach dem Karton von Concise.
    Concise ist nicht da. Er besucht den Gottesdienst in einem anderen Trakt. Nicht etwa, weil er besonders religiös ist, sondern weil der Gottesdienst ihm die Möglichkeit bietet, seinen Selbstgebrannten an Insassen zu verkaufen, die er sonst nicht zu sehen bekäme. Nach der Zellendurchsuchung wird er natürlich keine Ware mehr haben. Und in der Einzelhaft, die ihm dann bevorsteht, wird er auch nichts mehr brennen können.
    Der Aufseher öffnet eine Tube Zahnpasta, drückt sich ein bißchen von dem Inhalt auf den Finger und probiert mit der Zunge. Dann greift er nach der Sham-pooflasche voller Fusel und schraubt den Deckel an.
    »Das ist meine«, sage ich rasch.
    Ich würde gern behaupten, daß ich das aus reiner Selbstlosigkeit sage, aber das wäre wieder eine Lüge. Nein, ich denke einfach, daß Concise und ich mittlerweile ein zerbrechliches Vertrauen zueinander aufgebaut haben. Mit einem anderen Zellengenossen ganz von vorn anzufangen, könnte ein Desaster werden. Ich denke, daß ich wenig zu verlieren habe, Concise aber alles. Ich denke, daß sich die Taten unseres Lebens vielleicht in einem karmischen Gleichgewicht befinden und daß, wenn man dafür sorgt, daß die Existenz eines Menschen so bleibt, wie sie ist, das Mal getilgt wird, als man die Existenz eines anderen veränderte.
    In der Sicherheitsverwahrung kommt man sich vor wie ein Geist, etwas, worin ich reichlich Übung habe. Die Aufseher scheinen einen gar nicht wahrzunehmen. Für eine Stunde am Tag darfst du allein in den Aufenthaltsraum, du kannst duschen und die größere Bewegungsfreiheit genießen. Stundenlang benutzt du deine Stimme nicht. Du lebst in der Vergangenheit, weil die Gegenwart sich so weit erstreckt, daß ein flüchtiger Blick schon weh tut.
    Ich habe niemanden, mit dem ich reden kann, alles, was mich aus meinem Trott reißt, ist ein Geschenk. Als mir gesagt wird, daß ich Besuch von meinem Anwalt habe, kann ich es kaum erwarten, in den Besucherraum geführt zu werden, allein schon wegen der Ablenkung. Aber es gibt auch einen Grund, warum ich lieber darauf verzichte. Ich weiß, warum du Eric gebeten hast, mich zu vertreten, aber da kanntest du die ganze Geschichte noch nicht ... und Eric auch nicht. Mein letztes Gespräch mit Eric hat mir gezeigt, daß er meine Geschichte nicht so ohne weiteres von seiner eigenen trennen kann. Hätte er sich auch dann bereit erklärt, mich zu vertreten, wenn er gewußt hätte, daß er sich wieder den Erinnerungen an seine eigene Trunksucht würde stellen müssen?
    »Bitte teilen Sie meinem Anwalt mit«, sage ich, »daß ich ihn nicht sehen möchte.«
    Eine halbe Stunde später werden die Insassen in den anderen Zellen unruhig, fangen an zu lärmen, schlurfen auf und ab wie Tiger in Käfigen. Ich blicke über die Schulter und sehe den Grund für die Unruhe: Sergeant Doucette führt Eric zu meiner Zelle.
    Ich drehe den Rücken zur Tür. »Ich will nicht mit ihm reden.«
    »Er will nicht mit Ihnen reden«, sagt sie zu Eric.
    Eric atmet scharf ein. »Ist mir nur recht. Ich habe nämlich nicht die geringste Lust, mir anzuhören, warum man dich in die Einzelzelle gesteckt hat.«
    In dem Moment fällt mir wieder die Situation ein, als mir zum ersten Mal klar wurde, daß Eric es sein würde, der sich um dich kümmert, wenn ich dich loslasse. Du warst vierzehn, und dir waren die Weisheitszähne gezogen worden. Dein ganzes Gesicht war noch gefühllos von den Spritzen, die du bekommen hattest. Eric kam nach der Schule zu uns, und er brachte dir den Schokomilchshake, den du dir gewünscht hattest. Als dir die Flüssigkeit übers Kinn lief, wischte Eric dich mit einer Serviette sauber. Aber ehe er die Hand wieder senkte, ließ er seine Fingerspitzen zärtlich über deine Wange gleiten. Er tat das, obwohl oder vielleicht auch weil er wußte, daß du wegen der Betäubungsspritze nichts spüren konntest.
    »Lassen Sie ihn rein«, sage ich zu der Aufseherin.
    Eric ist sichtlich unwohl, er umklammert die Gitterstäbe, wie ein Schwimmer, der Angst hat,

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