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Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman

Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman

Titel: Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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York zur Welt kam. Er kannte seinen Daddy nicht, der saß im Gefängnis. Seine Mama ging für Crack auf den Strich und zog mit ihm und seinen zwei Schwestern nach Phoenix, als er zwölf war. Zwei Monate später starb sie an einer Uberdosis. Seine Schwestern zogen zu ihren Freunden, und der Junge landete auf der Straße. Die Park South Crips wurden seine Familie. Die Gang gab ihm zu essen und etwas zum Anziehen, und eines Tages, als er sechzehn war, durfte er zum ersten Mal mitmachen, als sie ein Mädchen überredeten, mit ihnen einen drauf zu machen. Sie wechselten sich bei ihr ab. Erst später erfuhren sie, daß sie erst dreizehn war und obendrein geistig zurückgeblieben.«
    »Und so ist Clutch hier gelandet?«
    »Nein«, antwortet Concise. »So bin ich hier gelandet. Die Geschichte von Clutch ist die gleiche, nur die Namen sind anders. Jeder hier hat so eine Geschichte, außer so feine Pinkel wie du.«
    »Ich bin nicht fein«, sage ich leise.
    »Aber von der Straße bist du auch nicht. Wieso bist du eigentlich hier?«
    »Ich habe meine Tochter gekidnappt, als sie vier Jahre alt war, ihr erzählt, ihre Mutter wäre tot, und uns eine neue Identität verschafft.«
    Concise zuckt die Achseln. »Das ist doch kein Verbrechen, Mann.«
    »Das sieht die Staatsanwaltschaft anders.«
    »Du hast deine Tochter doch nicht umgebracht,
    oder?«
    »Um Gottes willen, nein«, sage ich entsetzt.
    »Du hast keinem was getan. Die sprechen dich frei.«
    »Tja«, sage ich, »ich weiß nicht mal, ob das so gut ist.«
    »Willst du nicht wieder raus?«
    Ich überlege, wie ich diesem Mann erklären soll, daß ich nie wieder zu dem zurückkann, was einmal war. Daß man an das Märchen, das man so überzeugend erzählt, irgendwann glaubt und sich gar nicht mehr erinnern kann, aus welcher Wahrheit es entstanden ist. Es sind fast dreißig Jahre vergangen, seit Charles Matthews existierte, und ich weiß nicht mehr, wer er ist. »Ich habe Angst«, gestehe ich, »das könnte noch schwerer werden als hier drin.«
    Concise sieht mich einen langen Augenblick an. »Als ich das erste Mal wieder rauskam, bin ich zur Feier des Tages frühstücken gegangen. Ich hab mir ein nettes kleines Diner gesucht und mich hingesetzt und der Kellnerin in ihrem kurzen Kleid zugeschaut. Sie kam zu mir, um die Bestellung aufzunehmen, und ich hab gesagt, ich möchte Eier. >Wie möchten Sie die Eier?< hat sie gefragt, und ich hab sie bloß angestarrt, als käme sie vom Mars. Fünf Jahre lang hatte ich keine Wahl gehabt - wenn wir Eier kriegten, dann in Form von Rührei, basta. Ich hätte gern was anderes als Rührei bestellt, aber ich hatte die Wörter dafür vergessen.«
    Sprache verliert sich, wie alles andere auch, wenn man es nicht benutzt. Wie lange wohl noch, bis ich mich nicht mehr an Gnade erinnern kann? Bis Vergebung verschwunden ist? Wie lange muß ich hier drin hocken, bis ich vergesse, wie sich Chance auf der Zunge anfühlt?
    Vielleicht ist Schicksal nicht der See, in dem du schwimmst, sondern der Angler in seinem Boot, der dich am Haken hat und dich so lange an der Schnur zappeln läßt, bis du erschöpft bist und er dich einholen kann.
    Als ich aufblicke, schaut Concise mich an. »Ich faß es nicht«, sagt er leise. »Du bist einer von uns.«
    Inker, der Tattoo-Künstler unter uns, schmilzt Schachfiguren ein, um den monochromen Grünton zu erhalten, den er für seine Arbeit braucht. Sein Kunde hat bereits Ärmel - Tattoos vom Handgelenk bis zur Schulter. Auf jedem Trizeps steht White Pride , und auf dem Rücken hat er einen keltischen Knoten. Die Haut eines Insassen ist ungeheuer aufschlußreich. Hakenkreuze und Doppelblitze verraten die Verbindung zu rassistischen Gruppen. Spinnennetze und Stacheldraht besagen, daß jemand schon einmal im Gefängnis war. An der Stellung der Zeiger auf einem Ziffernblatt kannst du erkennen, wie viele Jahre er gesessen hat.
    Ich frage mich, wo Inker das neue Tattoo unterbringen will. Er wird die Haut mit einer scharfen Klinge anritzen und die Tinte hineinreiben, damit die Wunde vernarbt. Er arbeitet im Rekordtempo, zwischen den Kontrollgängen des Aufsehers, der solche Dinge unterbinden soll.
    Gedeckt durch ein paar Kartenspieler beugt Inker sich über die nackte linke Schulter seines Kunden und senkt die Klinge, Blut quillt in Form eines Herzens hervor. »Passe«, sagt einer der Spieler, die vereinbarte Warnung, daß der Aufseher im Anmarsch ist. Inker schiebt die Klinge unter seinen Oberschenkel, versteckt die winzige Packung

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