Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman
aufhebt, während Ruthann erzählt, daß ihr Schwager, Dereks Vater, zu den ersten Soldaten gehörte, die im Irakkrieg gefallen sind. Entsprechend der Hopi-Tradition sollte sein Leichnam spätestens nach vier Tagen bestattet werden. Doch der Hubschrauber mit seinen sterblichen Überresten an Bord wurde abgeschossen, und so traf der Verstorbene erst sechs Tage nach seinem Tod ein. Die Familie tat, was sie konnte -die Haare wurden ihm mit Yuccaseife gewaschen; der Mund mit Essen gefüllt, um seinen Hunger zu stillen; seine persönlichen Dinge wurden ihm ins Grab gelegt -, doch wegen der zweitägigen Verspätung stand zu befürchten, daß er es nicht bis ans Ziel schaffen würde.
»Wir haben stundenlang gewartet«, sagt Ruthann. »Und dann, kurz bevor es dunkel wurde, regnete es. Nicht überall, nur auf das Haus meiner Schwester und auf ihren Feldern und vor dem Gebäude, wo mein Schwager sich für den Irakeinsatz gemeldet hatte. Da wußten wir, daß er in der nächsten Welt angekommen war.«
Ich schaue hinauf zu der Wolke, in der sie ihren Schwager sieht. »Was ist mit denen, die es nicht dahin schaffen?«
»Sie sind für immer in dieser Welt verloren«, sagt Ruthann.
Ich halte die Handfläche hoch. Ich versuche, mir einzureden, daß ich einen Tropfen Regen spüre.
»Ruthann«, sage ich, als wir wieder nach Hause fahren, »wie kommt es, daß Sie in Mesa wohnen? Mir war gar nicht bewußt, daß Sie hier in der Gegend Verwandte haben.«
»Wieso ziehen Menschen an so einen Ort wie den, an dem wir leben?« fragt sie achselzuckend. »Weil sie sonst nirgendwo mehr hinkönnen.«
»Fahren Sie manchmal zurück?«
Ruthann nickt. »Wenn ich mich erinnern muß, wo ich herkomme und wo ich hingehe.«
Vielleicht sollte ich das auch tun, denke ich. »Sie haben mich gar nicht gefragt, warum ich nach Arizona gekommen bin.«
»Ich hab gedacht, wenn Sie es mir erzählen wollen, werden Sie das schon tun«, sagt Ruthann.
Ich halte den Blick auf die Straße gerichtet. »Mein Vater hat mich gekidnappt, als ich klein war. Er hat mir erzählt, meine Mutter wäre tödlich verunglückt, und er ist mit mir von Arizona nach New Hampshire gezogen. Er ist jetzt in Untersuchungshaft, in Phoenix. Ich hab das alles erst vor einer Woche erfahren. Ich wußte nicht, daß meine Mutter während all der Jahre am Leben war. Ich kannte nicht mal meinen richtigen Namen.«
Ruthann wirft einen Blick nach hinten, wo Sophie sich schlafend an Gretas Rücken schmiegt. »Wieso haben Sie sie Sophie genannt?«
»Nun ... weil mir der Name gefiel.«
»An dem Morgen, als meine Tochter ihren Namen erhielt, mußte jede von ihren Tanten einen Vorschlag machen. Ihr Vater war Pövolnyam, vom Schmetterlingsclan, daher hatte jeder der Namen etwas mit Schmetterlingen zu tun. Ein Vorschlag war Pölikwap-tiwa, das bedeutet, Schmetterling, der auf Blüte sitzt. Ein anderer Tuwahöima, Schlüpfender Schmetterling. Und Taläsveniuma, Schmetterling, der Pollen auf Flügeln trägt. Doch der Name, den Großmutter sich aussuchte, war Kuwänyauma, Schmetterling mit schönen Flügeln. Sie wartete bis Sonnenaufgang, nahm dann Kuwänyauma auf und stellte sie den Geistern vor.«
»Sie haben eine Tochter?« sage ich erstaunt.
»Sie wurde nach dem Clan ihres Vaters benannt, aber sie gehörte zu meinem«, sagt Ruthann, und dann zuckt sie mit den Schultern. »Als sie initiiert wurde, erhielt sie einen neuen Namen. Und in der Schule nannten die Lehrer sie Louise. Ich will damit sagen, wie man dich nennt, hat nur selten etwas damit zu tun, wer du bist.«
»Was macht Ihre Tochter?« frage ich. »Wo lebt sie?«
»Sie ist schon lange fort. Louise hat nie verstanden, daß Hopi kein Wort ist, das eine Person bezeichnet, sondern ein Ziel.« Ruthann seufzt. »Sie fehlt mir.«
Ich schaue durch die Windschutzscheibe zu den Wolken, die sich am Horizont ducken. Ich muß an
Ruthanns Schwager denken, der für das Glück seiner Familie regnet. »Tut mir leid«, sage ich. »Ich wollte Sie nicht traurig machen.«
»Haben Sie nicht«, erwidert sie. »Wenn man nach seiner Geschichte gefragt wird, dann muß sie erzählt werden. Aber jedesmal fällt sie ein kleines bißchen anders aus. Das ist neu, selbst für mich.«
Während ich Ruthann zuhöre, kommt mir der Gedanke, daß sich die Gleichung vielleicht nicht umkehren läßt: Vielleicht ist der Verlust des Kindes für eine Mutter größer als der Verlust der Mutter für das Kind. Vielleicht hat das Wissen, wo du hingehörst, nicht den gleichen Wert
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