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Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman

Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman

Titel: Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Schläfe knallt. Im Fallen nehme ich verschwommen die Körper wahr, die an mir vorbeidrängen, den wuchernden Dschungel von Füßen. Die Stimme des Aufsehers ist so hoch wie die eines Kindes. Mehrere Häftlinge in Kampf auf dem Hof verwickelt. Brauche sofort Verstärkung.
    Am Fenster des Mehrzweckraumes, das auf den Hof geht, pressen sich auf einmal etliche Gesichter an die Scheibe. Wachleute strömen auf den Hof, versuchen, das Knäuel aus Schwarzen und Braunen und Weißen auseinanderzuziehen. Gewalt in unmittelbarer Nähe hat einen Geruch wie kupferiges Blut oder brennende Holzkohle. Ich krieche langsam auf die hintere Mauer zu, heftig zitternd.
    Plötzlich spuckt die Wand aus Körpern jemanden aus, der neben mir landet. Sticks hebt das Gesicht, und seine Miene hellt sich auf.
    Ich nehme die seltsamsten Dinge wahr: daß der Asphalt unter mir nach Waschraum riecht; daß die Wunde an Sticks' Schulter die Umrisse von Florida hat; daß er einen Schuh verloren hat. Meine Beine versagen mir den Dienst, als ich vor ihm zurückweiche. Meine Hand schließt sich um mein Blasrohr.
    Als er mich anlächelt, sind seine Zähne blutverschmiert. »Niggerliebchen«, sagt er und hebt mit der linken Hand eine selbstgemachte Pistole.
    Ich weiß, was das ist, weil Concise so eine hatte basteln wollen, es aber nicht mehr rechtzeitig geschafft hat, eine Patrone zu besorgen. Man sägt die Ober- und Unterseite von einem Asthmainhalator ab und schneidet das Metall anschließend auf. Dann preßt man es flach, rollt es um einen Bleistift und erhält ein Röhrchen, in das sich eine Patrone vom Kaliber 22 stecken läßt. Man wickelt ein Stück Stoff drum herum und nimmt es in eine Hand. In der anderen Hand hält man den Zündbolzen - irgend etwas, mit dem man das untere Ende einer Patronenhülse treffen kann, wenn man die eine Hand gegen die andere klatschen läßt. Aus anderthalb Metern Entfernung ist die Waffe tödlich genau.
    Ich sehe, daß Sticks ein gebogenes Stück Metall hervorholt - ich erkenne darin einen Handschellenschlüssel - und in der rechten Hand hält. Er nimmt die Fäuste auseinander.
    In Zeitlupe hebe ich die Kugelschreiberhülse und schließe den Mund um ein Ende. Der Pfeil saust auf Stick zu, die Heftklammer dringt ihm ins rechte Auge.
    Er rollt brüllend von mir weg, und mit zitternden Händen lasse ich mein Blasrohr in einem Gully verschwinden. Die Aufseher setzen Pfefferspray ein, das mir die Sicht raubt. Als ich etwas an meinem Ohr vorbeirollen höre, versuche ich zu erkennen, was es ist, aber meine Augen tränen und brennen und sehen nichts. Ich taste mit den Händen und spüre schließlich die kühle Metallspitze eines Geschosses. Ohne Zögern greife ich nach der Patrone, die Sticks fallen gelassen hat.
    »Ganz ruhig«, sagt eine Stimme hinter mir. Ein Aufseher hilft mir auf die Beine. »Ich hab gesehen, daß Sie den ersten Schlag abgekriegt haben. Geht's wieder?«
    Irgendwann zwischen dem Augenblick, an dem ich diesen Hof betreten habe, und jetzt, da ich ihn wieder verlasse, habe ich mich in einen Menschen verwandelt, den ich vage wiedererkenne. In einen verzweifelten Menschen. In jemanden, der zu Taten fähig ist, die ich mir nicht vorstellen konnte, bis ich dazu getrieben wurde. In jemanden, der ich vor achtundzwanzig Jahren war.
    Ein anderes Leben an nur einem Tag.
    Ich nicke dem Aufseher zu und hebe die Hand an den Mund, tue so, als würde ich mir den Speichel abwischen. Dann hole ich die Patrone mit der Zunge aus der Wange und schlucke.

FÜNF
    Als rührte sich die Erinnerung Wie Blätterrascheln im Dunkel.
    HENRY WADSWORTH LONGFEI.LOW, The Fire of Drift- Wood

DELIA
    Ruthann erzählt Sophie, daß Hopi-Mädchen in ihrer Kindheit das Haar noch in kunstvoll geflochtenen Knoten über jedem Ohr trugen. Sie teilt Sophies Haar, formt aus jeder Seite einen Strang, den sie eng aufrollt. »So«, sagt sie. »Jetzt siehst du aus wie eine kuwänyauma.«
    »Was ist das?« fragt Sophie.
    »Ein Schmetterling mit wunderschönen Flügeln.« Sie legt Sophie ein Schultertuch um und umwickelt ihr die Füße mit Bandagen: improvisierte Mokassins. »Ausgezeichnet«, sagt sie. »Jetzt bist du fertig.«
    Heute fährt sie mit uns zum Heard Museum in Phoenix, wo ein Festival stattfindet. Sie hat den Wagen voll gepackt mit alten Brettspielen und kaputten Uhren, Kulis ohne Mine, Vasen mit angeschlagenen Stellen und Rissen. Wenn ihr nichts anderes vorhabt , sagte sie zu uns, ich könnte etwas Personal gebrauchen.
    Eine Stunde später stehen

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