Wainwood House - Rachels Geheimnis
gebohnert waren. Doch das Gesinde schlief zu dieser Stunde noch erschöpft in seinen Betten. Wer aus seinen Träumen aufschreckte, drehte sich müde noch einmal herum oder tastete schlaftrunken nach dem Nachttopf unter seinem Bett. Nur aus der Küche drang ein leises Scharren, als die Küchenmagd begann, den Boden zu fegen.
Der unverrückbare Mittelpunkt von Wainwood House, die Achse des Schweigens und der Wächter von Rachels Geheimnis, war Maxwell Frost, der im Morgenrock dastand, mit vor der Brust verschränk ten Armen, und vor sich die vernarbte Tischplatte konzentriert musterte. All die Mutmaßungen und Schlussfolgerungen schienen in dem Schweigen an Gewicht zu gewinnen und endlich nach einer Antwort zu verlangen. Doch der Butler ließ sich nicht zu unziemlicher Eile drängen. Die Hierarchie der Stände war an diesem frühen Morgen außer Kraft gesetzt. Wenn er ihnen nach all den Jahren sein Geheimnis anvertraute, dann aus freien Stücken. Als Samuel sicher war, nicht mehr eine einzige Sekunde verschwenden zu können, während der Sonnenaufgang unerbittlich näher rückte, ergriff er zum ersten Mal unaufgefordert das Wort.
»Ohne das Totenbuch wird Jane sterben«, sagte Samuel. Er klang plötzlich wie der Achtzehnjährige, der er war, und nicht länger wie der erfahrene Hausdiener. »Sie ist entführt worden, Mr Frost. Wir konnten in London Colonel Feltham nicht finden. Ohne das Totenbuch haben wir nichts, was wir bei Tagesanbruch gegen sie eintauschen können. Wir sind die ganze Nacht hindurch gefahren, um Sie noch rechtzeitig anzutreffen. Bitte geben Sie es heraus. Sie können Rachel Felthams Leben nicht mehr retten, aber vielleicht das von Jane Swain.«
Der Butler sah ihn an, als würde er sich wieder daran erinnern, warum er ihn mit der verantwortungsvollen Stelle des zweiten Hausdieners betreut hatte. Dann nickte er nur einmal mit dem Kopf. »Warten Sie hier!«, wies er sie an. Ohne eine weitere Erklärung fuhr er auf seinen Pantoffeln herum und rauschte hinaus. Den beiden jungen Männern blieb die vage Hoffnung, dass all dies doch noch ein gutes Ende nehmen würde.
Samuel schenkte den dampfend heißen Tee in die Tassen. Ein tröstlicher Duft breitete sich zwischen ihnen aus. Die Schwärze vor den Fenstern machte einer ersten Schattierung von grauem Blau Platz, doch ihnen blieb nur noch eine kurze Frist, um das Totenbuch rechtzeitig zum Friedhof zu bringen. Als Mr Frost zurückkehrte, trug er einen ledernen Köcher bei sich. Er gab Samuel einen Wink, mehr Licht zu machen, und zog unendlich behutsam mehrere Rollen brüchigen Papyrus heraus. Mit derselben eleganten Effizienz, die er auch weißen Tischtüchern und silbernen Bestecken zuteilwerden ließ, rollte er die Bögen behutsam auseinander. Sie waren mit endlosen Reihen von Hieroglyphen und farbigen Zeichnungen bedeckt. Es gab Bilder von ganzen Familien, Zeichnungen von Mumien, und immer wieder die ägyptischen Götter, allen voran Anubis und Horus.
»Das«, erklärte Mr Frost, als würde er ihnen den kostbarsten Wein seines Kellers offerieren, »ist ein Totenbuch.«
»Und Sie haben keine Ahnung, warum Mrs Feltham Sie damit zurück nach England schickte?«, erkundigte sich Julian.
»Mir wurde eingeschärft, eine Woche lang in Alexandria auf Nachricht zu warten und erst dann ein Schiff nach England zu besteigen, falls sie ausbleiben sollte«, erklärte Mr Frost die Ereignisse, als hätten sie ihm Pflichtvergessenheit unterstellt. »Erst als ich in London von Bord ging, erfuhr ich von Mrs Felthams Tod. Ich fuhr nach Wainwood House, doch Charles Derrington war zu diesem Zeitpunkt bereits in Ägypten stationiert und sein Vater vom Alter gebeugt und bettlägerig. Ich telegrafierte nach Kairo und schickte einen Brief an Colonel Felthams Regiment, ohne eine Antwort zu erhalten. Meine Mittel waren nach der langen Reise begrenzt. Also bewarb ich mich um eine Stelle als Hausdiener auf Wainwood.«
»Sie haben nie jemanden davon erzählt?«, wollte Samuel wissen. »Wo haben Sie die Dokumente die ganze Zeit über versteckt?«
»Colonel Feltham hatte sich versetzen lassen. Es verging eine geraume Zeit, bevor ich sein neues Regiment ausfindig machen konnte und ihm wieder schrieb. Doch seine Gattin war längst in England beigesetzt worden. Niemand konnte sich die wahre Bedeutung des Totenbuches erklären.« Mr Frost klang genauso unbewegt wie üblich. Er gestattete weder seiner Stimme noch seinem Mienenspiel, über seine wahren Gefühle Aufschluss zu geben. Sein
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