Wainwood House - Rachels Geheimnis
damit schießt. Also wirst du dich hinter den Grabsteinen verstecken, um mir damit Deckung zu geben.« Er sah so aus, als würde er ihr widersprechen wollen, doch Penny drückte seine Hand und sprach weiter, ohne ihn zu Wort kommen zu lassen. »Wir müssen die Entführer in Sicherheit wiegen, sie mit Worten ablenken und hinhalten. Das ist unsere einzige Chance. Und wer wäre dazu besser geeignet als ein Mädchen in einem Ballkleid?«
Rubens andere Hand lag jetzt in ihrem Nacken. Sie standen unter den Ästen der Weide so nah beieinander, dass es aussah, als wären sie zu nur einem Menschen geworden. »Wenn dir etwas zustößt …«, setzte er an, aber Penelope schüttelte energisch den Kopf.
»Wir müssen unsere wenigen Chancen klug nutzen. Deshalb musst du mit der Waffe im Hinterhalt lauern«, verlangte sie. »Wer soll mich sonst retten, falls alles aus dem Ruder läuft? Wenn ich hier zurückbleibe, bin ich zu nichts nütze. Dann wird es niemanden geben, der dir oder Julian bei der Übergabe zu Hilfe kommen könnte, sollte die Zeit am Ende nicht ausreichen.«
Von Osten her graute der Himmel immer mehr auf. Die Entführer würden bereits die einsame Landstraße hinter dem Dorf hinauffahren. Penelope las den inneren Widerstreit Rubens so deutlich von seinem besorgten Gesicht ab, dass sie überzeugt war, er würde sie jeden Moment allein auf dem Friedhof zurücklassen. Doch er zog sie in seine Arme und hielt sie fest. »Wir werden gemeinsam gehen«, erklärte er, seinen Kopf an den ihren gelehnt. »Ich werde die ganze Zeit über in deiner Nähe bleiben, für niemanden zu sehen, aber bereit einzugreifen. Und wenn du mich rufen hörst, rennst du los. Versprich es mir!«
Penelope nickte heftig mit dem Kopf, als wollte sie Ruben und sich selbst von ihrem Mut überzeugen. Sie hielt sich an seinem Frack fest und küsste ihn auf den Mund, drängend und unbeholfen vor lauter Aufregung. Dann ließ sie ihn los. Sie gab ihm seinen Mantel mit dem Revolver zurück. Ganz allein ging sie das letzte Stück des Weges durch die Gräber auf die Kapelle zu. Sie warf keinen Blick zurück, um sich davon zu überzeugen, ob Ruben ihr folgte. Und sie sah auch nicht zu der Landstraße hinüber, um nach einem einzelnen Wagen oder einem Reiter Ausschau zu halten. Penelope hielt erst inne, als sie vor der Grabkapelle stand. Die Tür war verschlossen. Und für einen Moment legte sie die Hand auf das schartige, alte Holz. Dies war der Ort, an dem sie eines Tages beigesetzt werden würde, doch noch war es nicht so weit. Entschlossen gelobte Penelope mit der Hand auf dem Holz, an einem anderen Tag zu sterben. Als wäre damit die letzte Vorbereitung getroffen worden, drehte sie sich herum und blieb mit dem Rücken zur Kapellentür stehen.
Inzwischen war es hell genug, um bis zur Kirche hinübersehen zu können. Die Hügel von Wainwood hoben sich schemenhaft hinter ihr ab. Obwohl außer ihr niemand zu sehen war, sehnte sich Penelope nach einer Waffe, einem Messer, einer Pistole oder ihrem Bogen. Doch sie hatte all dies nicht und blieb stehen, wo sie war. Jetzt durchdrang das sanfte goldene Licht der aufgehenden Sonne den Frühnebel auf dem Friedhof. In der Weide hob eine Amsel zu singen an und ihr Gezwitscher wurde in der Ferne von anderen Vögeln aufgegriffen. Gerade als Penelope sicher war, das angespannte Warten keine Sekunde länger aushalten zu können, regte sich etwas vor der Kirche. Mehrere Gestalten schritten den Weg hinab, geschlossen wie ein Trupp Soldaten. Vorweg gingen zwei Männer, die anstelle von Hosen einen Leinenschurz auf den Hüften trugen, und statt einem Jackett mit Krawatte und Kragen nichts als einen breiten Lederkragen auf den Schultern. Ihre Köpfe waren kahl geschoren, ihre Augen mit schwarzer Kohle umrandet. Sie hatten die geschwungenen Bögen in ihrer Hand bereits gespannt.
Obwohl sie eher auf eine Londoner Theaterbühne gepasst hätten als in die malerische Stille des morgendlichen Friedhofs, war nichts Lächerliches an ihnen. Mit würdevollem Ernst schritten sie voran, und Penelope konnte sich lebhaft vorstellen, wie sie ihrem Pharao die abgeschlagenen Hände seiner Feinde nach der Schlacht darbrachten. Die Bogenschützen blieben zwei Grabeslängen vor ihr stehen und traten dann zur Seite, um den wahren Akteuren des Dramas Platz zu machen.
Penelope hatte nicht erwartet, jemals etwas Gespenstischeres zu sehen als den Horus auf dem Dachboden von Wainwood House. Damals hatte sie geglaubt, für den Rest ihres Lebens in
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