Walburgisöl - Oberbayern-Krimi
rechteckigen Becken und zwei Fontänen plätscherte hier, direkt dahinter standen Bäume. Aber nach Walburga Zinsmeisters Schilderungen musste die Linde, an der die drei Männer aufgehängt worden waren, nahe der Pforte des Priesterseminars gestanden haben. Morgenstern stellte den Wagen direkt vor dem Portal der Schutzengelkirche ab, stieg aus und sah sich auf dem Platz um. Die Linde musste irgendwann gefällt worden sein. Er ließ seinen Blick weiterschweifen. Tatsächlich fand sich nirgendwo eine Erinnerungstafel, kein Hinweis. Nichts. Spiegelglatt und weißlich gelb leuchtete das Kalksteinpflaster; mehrere Marmorblöcke, schlicht und poliert wie steinerne Särge, säumten den Weg zum Eingang der Kirche.
Wo Henning wohl begraben worden war?, dachte Morgenstern.
»Ich hätte die alte Frau danach fragen sollen«, murmelte er.
Die seltsame Beklemmung in seiner Brust verstärkte sich. Es waren noch so viele Fragen offen. Und Morgenstern war sich nicht sicher, ob er wirklich auf all diese Fragen eine Antwort wollte. Aber eine Frage musste er von Berufs wegen zuverlässig klären: Hatte Walburga Zinsmeister den Denunzianten Matthias Schreiber tatsächlich erschossen? Es gab Zweifel, denn die von ihr genannte Tatzeit stimmte nicht.
Grübelnd stieg er in sein Auto und fuhr nach Hause. Im Moment gab es für ihn nichts zu tun; noch hielten sie die Geschichte unter Verschluss. Denn die Sache war heikel – eine fünfundachtzigjährige Großmutter unter dringendem Mordverdacht würde die gesamte deutsche Presse auf den Plan rufen. Die Bild-Zeitung, Fernsehteams aller Sender würden in Eichstätt einfallen und jeden Stein umdrehen. Er könnte es ihnen nicht einmal verübeln. Eine blutige Rache nach so vielen Jahrzehnten – noch dazu von einer Frau, die jeden Herz-Jesu-Freitag in der Walburgisgruft betete, das war der Stoff, auf den diese Burschen anschlugen wie der Drogenhund auf einen Koffer voll Marihuana.
Das Ganze musste sorgfältig vorbereitet sein, und dafür sollte es am Montag eine ausführliche Besprechung unter Leitung von Kriminaldirektor Adam Schneidt geben. Viel Arbeit stand in den nächsten Tagen an – da war es nicht einmal schlecht, dass Fiona mit den Kindern verreist sein würde und er sich voll auf den Job konzentrieren konnte. Mit einer sonderbaren Mischung aus Erleichterung und Sorge kam er zu Hause an.
»Nie im Leben«, sagte Fiona, als er ihr in der Küche die ganze Geschichte erzählt hatte. Entgegen sämtlichen Dienstvorschriften tauschte Morgenstern sich regelmäßig mit seiner Frau über seine Ermittlungen aus. Er wusste, dass er sich auf ihre Verschwiegenheit hundertprozentig verlassen konnte. Die Buben waren im Freibad, und Fiona hatte spontan eine Flasche Weißwein entkorkt. Erst hatte sie zu Morgensterns Überraschung ein paar Tränen verdrückt – »Mein Gott, wie tragisch« –, doch wenig später hatte sie ihre gewohnte Souveränität wiedergefunden. »Nie im Leben hat diese alte Frau den Schuss abgegeben. Mit fünfundachtzig Jahren kann sie das nicht mehr, glaub mir, Mike.«
»Sie behauptet aber, dass sie es kann. Ich habe allerdings auch meine Bedenken. Es passt einfach nicht.«
»Dann will sie eben vom wahren Täter ablenken.« Fiona nahm einen großen Schluck Weißwein. »Wenn du mich fragst: Ich denke, es war ihr Sohn, dieser … wie hieß er gleich wieder?«
»Gottfried.«
»Dieser Gottfried. Mal angenommen, er kommt hinter die ganze Geschichte, erfährt endlich, wer sein Vater war und was mit ihm passiert ist. Er weiß auf einmal, wer schuld daran ist, dass seine Kindheit und das Leben seiner Mutter verkorkst waren.«
»Und das Gewehr?«
»Sogar du hast das Versteck entdeckt, Mike«, sagte Fiona milde. »Dabei bist du gerade mal ein paar Minuten in diesem Klo gewesen. Glaubst du wirklich, du könntest hier bei uns im Haus etwas so gründlich vor mir und erst recht vor unseren Kindern verstecken, dass sie es nicht irgendwann durch Zufall finden? Denk mal an unsere Weihnachtsgeschenke. Ich bin immer heilfroh, wenn endlich der Heilige Abend kommt und die Jungs die Päckchen noch nicht aufgestöbert haben.«
Morgenstern dachte an den Stapel alter Playboy-Ausgaben, den er schon seit vielen Jahren mit schlechtem Gewissen in einem vermeintlich todsicheren Versteck aufbewahrte. Sogar den Umzug von Nürnberg nach Eichstätt hatten sie mitgemacht. Er war sich nicht sicher, was peinlicher wäre: wenn Fiona oder wenn die Kinder die Herrenmagazine entdeckten. Höchste Zeit, dass er
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