Wald aus Glas: Roman (German Edition)
beachtet. Das Interesse der anderen an ihr war von kurzer Dauer gewesen; anfangs hatte man sie mit Fragen bedrängt, immerhin war sie von der Polizei ins Haus gebracht worden, die sie aus ihrer Wohnung hatte tragen müssen. Doch die anderen hatten bald gemerkt, dass sie keine Frau war, die gern erzählte. Sie wollte in Ruhe gelassen werden. Und bald ließ man sie nicht nur in Ruhe, man beachtete sie gar nicht mehr und strafte sie mit Verachtung für ihre Verschwiegenheit und auch dafür, dass sie die anderen spüren ließ, wie wenig sie ihre Gesellschaft schätzte oder brauchte. Die anderen begriffen, sie war jemand, der nicht nur alleine sein wollte, sondern auch allein sein konnte , darum hielten sie Distanz zu ihr.
»Schon mal vom Braunbrustigel gehört?«, fragte Humbel und sah sich wichtigtuerisch um.
»Igel sind dumm«, meinte die Frau mit dem rosa Jäckchen.
»Das Weibchen dreht sich immer wieder vom Männchen weg«, sagte Humbel und legte sein Besteck auf den Tisch, »manchmal stundenlang. Darum spricht man im Zusammenhang mit ihrer Paarung auch vom ›Igelkarussell‹.«
»Dumm«, sagte die Frau noch einmal.
»Ich hasse Karussells«, sagte der Mann, der neben Roberta saß.
»Igelkarussell«, sagte Humbel.
»Weil mir schlecht wird auf den Dingern.«
»Als Vorkehrung für die Paarung legt das Weibchen die Stacheln an«, sagte Humbel, »das muss man sich mal vorstellen!«
»Die meisten Tiere sind dumm«, sagte die Frau mit dem Jäckchen.
»Schon als Kind ist mir auf jedem Karussell schlecht geworden.«
»Nicht alle. Aber die meisten«, sagte die Frau und blickte Roberta an.
»Um das Männchen zu schützen«, sagte Humbel.
»Die meisten Tiere sind klüger als die Menschen.«
Die Frau hatte bis jetzt geschwiegen, sie saß Roberta gegenüber und trug eine Brille mit getönten Gläsern, rechteckig wie Bildschirmchen, hinter denen die Augen nicht zu erkennen waren.
»Wohl wahr, Frau Aebi«, sagte Humbel, »wohl wahr, Tiere sind klüger als die meisten Menschen.«
»Andersrum«, sagte der Mann neben Roberta, »sie hat es andersrum gesagt, die meisten Tiere sind klüger als die Menschen, nicht, die Tiere sind klüger als die meisten Menschen.«
»Die Frösche haben das Städtchen L’Aquila in den Abruzzenzwei Tage vor dem Erdbeben verlassen, alle, aber das hat natürlich keinen Menschen interessiert«, sagte die Frau mit der Brille.
»Mit Intelligenz hat das rein gar nichts zu tun«, sagte der Mann, der neben Roberta saß, »das nennt man Instinkt. Natürlich nur, wenn man klug ist. Instinkt!«
»Über dreihundert Tote, 40 000 Obdachlose«, sagte die Frau ungerührt.
»Der Mensch ist das einzige Tier, das nicht weiß, wann etwas das letzte Mal ist«, sagte Roberta leise.
Alle sahen sie an. Woher kamen diese Sätze, wo hatten sie sich all die Jahre verborgen vor ihr? Hatte sie an ihnen gearbeitet, ohne dass es ihr bewusst gewesen war? Sie hielt sich die Hand vor den Mund, als sei ihr schlecht. Sonne streifte über Humbel, es war, als sitze er hinter Glas, konserviert in einer hellen, sepiafarbenen Flüssigkeit, strahlend vor Stolz, weil er etwas wusste.
Sie hätte nicht sagen können, warum sie genau dieses Buch aus dem Stapel zog und aufschlug. Der Umschlag, grau und ohne Bild, gefiel ihr, weil er sie irgendwie an ihre Jugend erinnerte. Der Name des Schriftstellers, Thomas Bernhard, war schwarz gedruckt, der Titel »Frost« weiß, in großen Buchstaben, die ausfaserten, als seien sie mit dem Pinsel aufgemalt worden. Es erstaunte Roberta nicht, den Zettel mit der Liste der Worte ausgerechnet in diesem Buch zu finden. Der Anblick der Bleistiftbuchstaben mit ihren weichen Bögen löste einen ziehenden Schmerz in ihrer Magengrube aus. Das Papier war mit brombeerfarbenen Flecken übersät, zart, als habe sie jemand behutsam und wohlüberlegt hingetupft.
Kopfgewicht
Hohlweg
Totgeburten
Landstreicher
Floß
Hundekadaver
Armenhausküche
Das Buch trug nicht den Stempel des Altenheimes auf der ersten Seite, sondern fünf Zeilen in einer Schrift, die so klein war, dass Roberta die Lesebrille brauchte. Die Zeilen erklärten, dass die Ausgabe ein Faksimile der Erstausgabe von 1963 war, gedruckt in einer Auflage von tausend Exemplaren, vom Autor signiert und nummeriert. Das Buch gehörte nicht in ihre Bibliothek. Das Exemplar trug die von Hand eingetragene Nummer 659. Die Unterschrift darunter war klar und erinnerte Roberta an die Schrift auf den Listen. Sie faltete den Zettel zusammen, um ihn
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