Wald aus Glas: Roman (German Edition)
Pfäffikon.«
»Unser Bus fährt nach Horgen.«
»Und nach Zug«, sagte der im Übergewand und rülpste leise.
»Wissen Sie, wann?«, fragte Roberta und stand auf.
Prinz sprang auf die Beine und sah sie rasch hechelnd an. Die Serviertochter klatschte in die Hände, als sei es Zeit, etwas Neues zu beginnen.
»In eineinhalb Stunden«, sagte sie laut und lächelte den Mann mit den Cowboystiefeln an.
Der stellte die Espressotasse auf den Tresen, räusperte sich und legte seine Hand auf den Unterarm der Serviertochter, ganz kurz nur und ohne sie anzusehen.
»Danke für den Espresso, Silvia. Sie können mit mir fahren. Ich muss nach Pfäffikon.«
»Und der hier?«, fragte Roberta und klopfte Prinz auf die Flanke.
»Den nehmen wir schön mit. Hab selber einen. Ich steh hinter dem Haus, kommen Sie, ich muss weiter.«
4
Das Sonnenlicht verbrannte die Farben und legte einen verwaschenen Schleier über die Welt. Wenn Ayfer die Augen zusammenkniff, sah der Maschenzaun, der das Areal derRaststätte begrenzte, wie eine Klinge aus. Sie hockte in einem ungeschnittenen Maisfeld und wartete darauf, dass der Bus weiterfuhr. Dann würde sie sich in der Tankstelle der Raststätte erkundigen, wo sie war, und versuchen, jemanden zu finden, der sie mitnahm.
Hinter dem Maisfeld stand eine Zeile baufälliger Häuser, deren Dächer in der Hitze flirrten. Das Rauschen des Verkehrs war so laut, dass Ayfer sich fragte, wie man hier leben konnte. Außerdem stank es nach Diesel, Benzin und verbranntem Gummi. Letztes Jahr hatte sie an der Schule einen Vortrag zum Thema »Mais« gehalten, und mit einem Mal erinnerte sie sich Wort für Wort an den ersten Satz: »Zea mays ist eine Pflanzenart aus der Familie der Süssgräser, die ursprünglich aus Mexiko stammt. Wie alle Gräser ist Mais windblütig, es erfolgt also eine Bestäubung der weiblichen Blüten durch Windtransport der Pollen.« Das Wort »windblütig« war sie lange nicht mehr losgeworden, sogar Schüler aus tieferen Klassen hatten es ihr nachgerufen. Ihr selbst hatte ein anderes Wort ihres Vortrages besser gefallen: »Kukuruz«, wie Mais in Österreich genannt wurde. Ayfer kauerte im schaukelnden Dämmerlicht des Maisfeldes, über sich die Kolben in ihren Hüllenblättern, die sich schurrend aneinander rieben, und wiederholte das Wort so lange, bis es jeden Sinn verlor. Kukuruzkukuruzkukuruzkukuruzkukuruz.
Bevor sie aus dem Fenster des Hinterzimmers gesprungen war, hatte sie noch einmal das Gedicht gelesen, das ihr Onkel dort gerahmt an die Wand gehängt hatte: »Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigenunsere Soldaten.« Ihr Onkel hatte ihr das Gedicht gleich am ersten Tag gezeigt und ihr stolz erklärt, Ministerpräsident Erdogan habe es auf einer Kundgebung zitiert und sei dafür 1998 zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt worden. Ayfer hatte auf das Gedicht gespuckt, hatte das Fenster geöffnet, war ins Freie gesprungen und auf den Bus aus Köln zugerannt.
Die Reisegruppe machte nicht bloß einen Pinkelhalt, sonst wäre sie längst weitergefahren, sagte sich Ayfer. Sie stellte sich vor, mitten durch die Maisstauden zu gehen, die sie weit überragten, Schritt um Schritt und ohne darüber nachzudenken, wohin sie ging, weil sie in ihrer Phantasie so oder so immer vor Davors Haus stand, wenn sie schließlich aus dem raschelnden Mais trat, egal, in welche Richtung sie auch ging. Ayfer, das Mädchen, für das die Gesetze von Raum und Zeit nicht gelten, Ayfer, das Mädchen, das durch Wände geht und sich durch keine Religion Grenzen setzen lässt. Ayfer nahm das Handy aus dem Seitenfach ihrer Tasche, jetzt fühlte sie sich stark genug, seine Stimme auszuhalten, obwohl sie wusste, dass sie ihn noch viele Tage nicht sehen würde. Ich will ihm sagen: Ich bin auf dem Weg zu dir! Im Gegensatz zu ihren Freundinnen telefonierte sie nicht besonders gern; sie wollte die Gesichter der Menschen sehen, mit denen sie redete, denen sie sich anvertraute. Davor hatte ihr gesagt, er finde es schwierig, mit ihr am Handy zu reden, sie sei ihm zu ernst und wollte über Dinge reden, »zu denen man gar nix sagen will«. Sie hatte seine Nummer nur ein einziges Mal eingestellt, dann hatte sie sie auswendig gewusst. Sie zögerte, bevor sie die letzte Taste drückte. Ich stehe hier in einem Maisfeld am Rand einer Autobahn irgendwo in der Türkei, habeein Handy
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