Wald aus Glas: Roman (German Edition)
dachte sie, die Weichen sind gestellt, und jetzt ist es zu spät, aufzuhalten, was in Gang gesetzt worden ist. Aber wann und durch was, durch wen? Wie dunkel es war. Sie spürte, wie sich derFlaum auf ihrer Wange sträubte. Etwas war anders als eben noch, es lag als Bedrohung in der Luft, und Ayfer konnte es benennen: Verlangen. Gier. Ihre Mutter hatte sie nur ein einziges Mal geschlagen, warum fiel ihr das ausgerechnet jetzt ein, hier, hinter einem Bretterverschlag am Rand eines Brennnesselmeeres, mitten in der Nacht, in der Nähe von Belgrad? Sie hatte damals die Schule geschwänzt, Französisch und Geometrie, um den Nachmittag mit Davor zu verbringen, sie waren mit dem Bus nach Aarau gefahren, hatten im Starbucks Iced Chai getrunken und waren der Aare entlang aus der Stadt spaziert, um sich auf dem Uferweg ungestört küssen und anfassen zu können. Sie hatte ihre Mutter so lange belogen, bis der vor Wut die Hand ausgerutscht war. Später hatte Mutter ihren Mann angerufen, der in der Türkei bei seinem Bruder war, und berichtet, was geschehen war. Das Erste, was Ayfer von ihrem Vater nach seiner Rückfahrt bekommen hatte, war eine Tracht Prügel gewesen.
»Zeig mal, was du hast da.«
Der Mann umfasste mit der gesunden Hand Annikas rechte Brust, er wog sie in der Hand, als müsse er erst abschätzen, ob sie ihm gefiel oder nicht. Die einbandagierte Hand hielt er mit abgewinkeltem Arm in die Höhe, sie stand als Barriere zwischen Ayfer und Annika.
»Wer Drogen raucht, kann blasen! Stimmst?«
Er griff Annika zwischen die Beine, lachte und versuchte, sie auf den Hals zu küssen, ein Mann voller Kraft und Verlangen, voller Gier. Annika gab ein Winseln von sich, ein kläglicher Laut, der Ayfer Angst machte und sie daran erinnerte, wie jung sie doch waren, wie unerfahren. Die Ohrfeige ihrer Mutter hatte sie mehr geschmerzt als die Schläge desVaters. Was gibt es Liebevolleres als die Berührung einer Mutter, dachte Ayfer, was Entsetzlicheres? Sie bückte sich, packte den runden, erstaunlich schweren Stein, hob ihn in die Höhe und drosch ihn dem Mann, ohne zu zögern, in den Nacken. Es klang, als haue jemand mit einem Hammer auf einen Sack voll Fleisch. Wie laut der Verkehr rauschte, wie warm es war. Das Brennnesselmeer wiegte sich, der Wind, der Wind. Das Stöhnen des Mannes reizte Ayfer zum Lachen, er war schwach, ein Feigling. Sie gab ihm einen Stoß, damit er nicht auf Annika fiel, und dirigierte ihn kopfüber, mit dem Gesicht voran, in die Feuerstelle.
17
Der Mann am Empfang schwitzte, sein Gesicht glänzte, als habe er es mit Olivenöl eingerieben. Roberta stellte ihren Rucksack vor dem Tresen ab, er hob den Kopf und lächelte sie an, einen Zahnstocher im Mundwinkel. Sie hatte erwartet, dass sie die Pension nicht wiedererkennen würde, nun stellte sie erstaunt fest, dass der Empfangsraum aussah wie damals. Die Wände waren tabakbraun gestrichen wie vor fünfundfünfzig Jahren, der Tresen war derselbe, auch die verglaste, hölzerne Kabine mit dem Gästetelefon stand noch in der Ecke. Nichts war verändert worden. In einem Korb auf der Theke lagen rote, auf Hochglanz polierte Äpfel, genau wie damals, daneben war der Ständer mit Ansichtskarten und Reisebroschüren aufgebaut. Nur der Mann an der Rezeptionwar natürlich ein anderer. Sie vermutete, dass er aus Indien oder Pakistan stammte. Er roch leicht nach Curry, seine schwarzen Haare hatten einen Stich ins Blaue und erinnerten sie an das Gefieder von Raben. Als Kind hatte sie sich solche Haare gewünscht, das hätte sie einzigartig gemacht, ein dunkles Mädchen unter den elf Blondschöpfen der Kienesbergers, ein Kind wie aus dem tiefen Kaukasus, ein Kuckuckskind mit schwarzen Augen. Der Mann nahm den Zahnstocher aus dem Mund und legte ihn neben das Buch, in dem er las; das eine Ende des Hölzchens war zerfasert und sah aus wie ein Pinselchen.
»Haben Sie ein Zimmer frei?«, fragte Roberta.
»Das haben wir«, antwortete der Mann, »ja, das haben wir.«
Er beugte sich über das Buch, als finde sich darin, welches Zimmer er der alten Frau geben sollte, die mit Hund und Rucksack vor seinem Tresen stand. Die Lesebrille, die neben einem altmodischen Taschenrechner lag, ließ er liegen.
»Und Sie haben nichts gegen ihn hier im Zimmer?«, fragte Roberta und strich Prinz, der ruhig neben ihr saß, über die Schnauze.
»Ich habe mich daran gewöhnt, dass die Menschen in Europa ihre Tiere überallhin mitnehmen. Ich glaube sogar, ich weiß, warum das so
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