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Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Titel: Wald aus Glas: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hansjörg Schertenleib
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dabei ihr Gesicht, das über Nacht zum Vogelköpfchen mit angstvoll versunkenen Augen geschrumpft war, hin und her bewegt, hin und her, auf und nieder, auf und nieder, bis das Großmutterköpfchen eines Nachmittages reglos auf dem Kissen gelegen hatte und sich nichts mehr gerührt hatte an ihr, nur die schmale Brust, die sich hob und senkte, und die Augenlider, die sich schlossen und öffneten wie bei einer uralten Schildkröte. Was sah Nuray in diesen letzten Stunden, wo befand sie sich, wohin war sie gereist? Sie verging, sie verschwand. Und dann war sie tatsächlich gestorben, mitten in der Nacht, lange bevor es hell wurde, bevor es dämmerte, während Ayfer in ihrem Bett lag und schlief, als könne sie ihrer Großmutter am Morgen die Hand auf die Stirn legen wie all die Tage zuvor, seit sie nicht mehr aufstand, Nuray, die nie krank gewesen war. Nuray hatte sie verlassen und war doch noch nicht fort. Wohin auch? Hatte sie in der Nacht gerufen, und niemand hatte sie gehört? Hatte sie gemurmelt, geflüstert, geweint? Hatte sie nach ihrem Mann Bekir gerufen, der drei Jahre zuvor eines Nachmittags zwischen seinen Olivenbäumen auf der felsigen Landzunge totumgefallen war, wo man ihn abends fand, die Schnauze seines Hundes, der neben dem Meister schlief, auf der Brust? Vor ihrem Großvater hatte Ayfer sich immer gefürchtet, sein strenger Blick hatte ihr ein schlechtes Gewissen eingejagt, auch wenn es dafür keinen Grund gab, sie hatte sich unsicher gefühlt in seiner Nähe, um etwas betrogen, nur um was? Statt sie zu umarmen, wenn er ihr nah sein wollte, hatte er ihren Kopf in beide Hände genommen und gedrückt und ihr dabei, bestimmt aus Versehen, die Ohren zugehalten, weshalb ihr Kopf zu einem Resonanzraum wurde, in dem sie ihr Blut rauschen hörte und die Geräusche der Welt nur noch aus weiter Ferne wahrnahm. Seine Hände, die sogar dann nach Tabak rochen, wenn er sie gerade gewaschen hatte, waren ihr zu rau gewesen, zu schwielig. Seine Stimme aber hatte sie geliebt, vor allem, wenn er sang, was er leider nur tat, wenn er sich in seinem Olivenhain unbeobachtet fühlte, mit dem Hund durch die verwachsenen Bäume schritt und mit seiner Singstimme Erinnerungen heraufbeschwor. Hatte ihn der Herztod wirklich von einer Sekunde auf die andere geholt und aus dem Leben gerissen? Und hatte ihre Großmutter, die dem Tod über Wochen entgegendämmerte, die Zeit bekommen, am Schluss zu erahnen, dass ihre letzte Nacht auf Erden gekommen war, und sich darauf vorzubereiten? Um ihrer Mutter Nuray ihren Platz im Paradies zu sichern, hatte Ayfers Mutter dafür gesorgt, dass die Sterbende das Bekenntnis La Ilaha Illa Allah noch im Diesseits ablegte, Ayfer hatte es mit eigenen Ohren gehört, und die Erleichterung in den Gesichtern der Verwandten gesehen. La Illaha Illa Allah! Auf den Tag genau eine Woche vor ihrem Tod hatte Nuray ihr einen Rat erteilt, den Ayfer nicht verstand, so oft sie auch darübernachdachte: »Tu nichts, bevor du es lassen kannst!« Sie hatte nur kurz allein am Bett ihrer Großmutter gesessen, der Abendwind hatte die mit Pfauen bestickten Gardinen ins Sterbezimmer geweht, und Ayfer hatte dem regelmässigen Hämmern gelauscht, das aus dem Nachbargarten zu ihnen herüberklang, wo ein Mann Zaunpfähle einschlug und immer wieder fluchte, weil die Erde so trocken war.
    »Träumst du?«, fragte Annika.
    »Du nicht?«, gab Ayfer kurz angebunden zurück.
    Annika starrte sie herausfordernd an, ihr Vater stand am Fenster und blickte in die Nacht hinaus. Der Widerschein des Feuers flackerte auf seiner Stirn, und Ayfer stellte sich vor, es seien seine Gedanken, die sie sehen könne. Ein Flackern und Flimmern, Auflodern, Erlöschen. Er drehte sich gähnend um. Ist die Vergangenheit ein schöner Ort, fiel Ayfer ein, oder wenigstens ein fröhlicher, ein Ort ausgelassener Feiern?
    »Ich leg mich jetzt hin. Wir fahren um Mitternacht weiter. Dann sind wir so gegen neun in Wien. Ihr könnt während der Fahrt schlafen. Aber bleibt beim Laster. Ich will mir keine Sorgen machen müssen wegen euch.«
    Annika neigte sich zu Ayfer hinüber, packte sie am Kinn und flüsterte ihr ins Ohr: »Heut Nacht zeig ich dir, was träumen wirklich heißt.«
    Fuhren Sattelschlepper oder Lastzüge vorbei, blähte sich die Plane des Anhängers, der neben ihnen stand, mit einem leisen Flappen, das klang, als atme ein großes Wesen im Innern des Anhängers aus. Die Welle, die dann durch den Schriftzug der Transportfirma ging, konnte oft nicht einmal

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