Wald aus Glas: Roman (German Edition)
ist.«
Roberta sah ihn fragend an. Sein Scheitel, bemerkte sie erst jetzt, war mit Schuppen bedeckt, genau wie der Kragen seines Hemdes. Der Ring, den der Mann am linken Ringfinger trug, hatte eine aufgerichtete Klapperschlange im Siegel.
»Weil euer Gott auf einem Esel reitet«, sagte der Mann grinsend, »unsere Götter dagegen reiten auf Löwen. Und Löwen nimmt man nirgendwohin mit! Auch nicht in Hotels!«
Roberta stimmte in sein Lachen ein. Die blitzenden Augen gaben ihm den Ausdruck eines jüngeren Mannes. Prinz spitzte die Ohren und blickte sie fragend an. Sollte sie den Mann nach dem Besitzer der Pension fragen? Amanshauser! In letzter Zeit fielen ihr Namen von Menschen ein, an die sie viele Jahre nicht gedacht hatte. Amanshauser. Der Besitzer hatte ihr damals den ungewöhnlichen Namen seiner Pension erklärt: In der Nacht, nachdem er im Sommer 1956 den Kaufvertrag für das Haus unterzeichnet hatte, war seiner Ehefrau im Traum ein blauer Eber erschienen, der ihr anerbot, er trage sie auf seinem Rücken durch Nacht und Nebel nach Hause.
»Glauben Sie, Hunde haben auch eine Seele?«
»Er hier auf jeden Fall«, sagte Roberta und klopfte mehrmals auf Prinz’ Flanke, als brauche sie seine Bestätigung.
»Das ist gut«, sagte der Mann, »Kaffee gibt es umsonst, im Zimmer nebenan, Sie können sich jederzeit bedienen. Dort servieren wir auch das Frühstück, zwischen 7 und 9 Uhr 30. Im Schrank liegen Wolldecken für Ihren Hund.«
Er legte das Meldeformular und einen Kugelschreiber auf die Theke, dann nahm er einen Zimmerschlüssel aus dem Regal. Der Anhänger war ein stilisierter handlicher Eber aus blau lackiertem Holz, wie schon im November 1957. Sie hatte das Formular beinahe fertig ausgefüllt, als ihr bewusst wurde, dass sie den Mädchennamen ihrer Mutter als Familiennamen eingetragen hatte: Lechner. Als Wohnadresse hatte sie die Anschrift ihres Elternhauses aufgeschrieben, das vor über zehn Jahren abgerissen worden war: Offenseestraße 67. Ich bin, dachte sie, ganz offensichtlich auf dem richtigen Weg.
»Darf ich Sie fragen, woher Sie kommen?«, fragte sie den Mann und nahm den Schlüssel in die rechte Hand.
»Meine Frau und ich stammen aus Rajanpur«, sagte der Mann, »aber ich wette, Sie wissen nicht, in welchem Land das liegt!«
»In Indien?«, sagte Roberta.
»Sehen Sie! Indien! Pakistan! Rajanpur liegt in Pakistan und nicht in Indien! Und nun wünsche ich Ihnen und Ihrem Hund mit Seele einen angenehmen Aufenthalt in unserem Eber, der natürlich, unter uns, nicht blau ist.«
»Nicht? Sondern?«
»Aus Gold! Aus purem Gold!«
Der Mann hatte leise gesprochen, als weihe er sie in ein Geheimnis ein. Er lächelte und deutete eine Verbeugung an, dann öffnete er das Buch, das vor ihm lag, steckte sich den Zahnstocher in den Mund, setzte die Lesebrille auf und las weiter.
Ihr Zimmer lag in der zweiten Etage des Seitenflügels, in dem sich auch Leopolds Zimmer befunden hatte, allerdings zwei Stockwerke höher. Ihr Fenster wies auf den Innenhof hinaus, dort stand ein einzelner hoher Baum, der sich im Wind bewegte. Im Haus gegenüber standen zwei junge Frauen auf einem Balkon und rauchten. Der Digitalwecker, der neben dem schmalen Einzelbett stand, ging eine Stunde nach, in der Schublade des Nachttisches lagen eine Bibel und ein mit Plastikfolie geschütztes Informationsblatt, auf dem Adressen von Restaurants und Fachgeschäften sowie Telefonnummern von Ärzten und Apotheken aufgelistet waren. Sie öffnete den Schrank, nahm die Wolldecken aus dem obersten Regal und legte sie neben dem Bett auf den Boden. Prinz zögerte, ohne sie anzusehen, dann legte er sich auf die Decken und fing an, sich die Vorderpfoten zu lecken. Die gerahmte Reproduktion,die über dem Bett an der Wand hing, zeigte eine menschenleere Gebirgslandschaft im Winter. Roberta drehte die Heizung auf, hängte ihre Jacke in den Schrank, setzte sich aufs Bett und löste die Schnürsenkel ihrer Wanderstiefel. Im Profil der Sohlen klebten Grashalme und Erdbatzen vom Campingplatz am Walensee; sie stellte die Schuhe neben den Schrank. Sie fror, die Füße und Waden taten ihr weh, dabei war sie heute nur ein kurzes Stück gegangen. Im Bad drehte sie das Warmwasser auf und zog an der Kordel der Heizsonne. Es war dunkel in dem fensterlosen kleinen Raum, aber sie machte kein Licht und spürte schon bald die angenehme Wärme der Heizsonne auf ihrem Gesicht. Sie stand für eine Weile im Schein der rotglühenden Spirale und ließ heißes Wasser über
Weitere Kostenlose Bücher