Wald aus Glas: Roman (German Edition)
beurteilt. An ihrer Schläfe schimmerten blaue Äderchen.
»Was alles?«
»Na da! Alles eben.«
Die Nonne öffnete die Augen und deutete aus dem Fenster.Ihre Hände waren klein und sehr weiß, Hände aus Papier. Sie leckte sich über die Lippen und scharrte mit den Turnschuhen über den Boden.
»Vorher gab es nichts, nichts. Auch uns nicht, keinen von uns. Nur die Falschen, die Unechten, die gab es damals schon. Einer von denen hat das alles regiert. Glaubst du an Gott?«
Ayfer nickte. Glaubte sie an Gott? Bestimmt nicht an denselben wie die Nonne, die sie mit zusammengekniffenen Augen ansah. Ihr Gesicht wirkte plötzlich verächtlich und ablehnend. Davor behauptete, jeder Mensch besitze irgendwann nur noch einen einzigen Gesichtsausdruck, der verrate, was er für einen Charakter habe. Das enttäuschte Gesicht. Das wütende Gesicht. Das ängstliche Gesicht. Das zufriedene Gesicht, das traurige, das glückliche, das verbitterte Gesicht. Auf Ayfers Frage, was ihr Gesichtsausdruck über ihren Charakter verrate, hatte er gelacht, sie sei viel zu jung, um das sagen zu können. »Wenn du mit mir zusammen bist, bist du ›das glückliche Gesicht‹. Aber wart’s ab, bis du alt bist, dann sehen wir weiter.« Der Gesichtsausdruck der Nonne verriet, dass sie einsam war, verloren.
»Was wisst ihr schon über Glauben!«, zischte sie und ließ sich auf ihren Platz zurücksinken. »Nichts, rein gar nichts! Bist du Türkin?«
»Mein Herz schlägt ganz ruhig«, sagte Ayfer, ohne nachzudenken.
Die Nonne riss die Augen auf, erstaunt und erschrocken, dann hob sie die rechte Hand, als kapituliere sie, nahm das Buch, schlug es auf und las weiter.
Der Zug wurde langsamer, schließlich hielt er auf offenerStrecke an. Vor ihrem Fenster stand eine Platane in einer ungemähten Wiese, sonst war weit und breit kein anderer Baum zu sehen. Abgesehen von Birken sind Platanen die einzigen Bäume, die ich erkenne, dachte Ayfer, und auch das nur, weil ich einen Vortrag über eine Baumart halten musste. Sie hatte sich damals für die Platane entschieden, weil ihre Großmutter ihr erzählt hatte, Platanen seien ihre Lieblingsbäume, seit Bekir sie unter einer geküsst hatte, das erste Mal, am Rand von Amasra, in einem Abendlicht, das sie niemals vergessen werde. Jetzt ist Nuray tot, dachte Ayfer, und ich will, dass Davor mich unter einer Platane küsst, von der die Rinde blättert, als befreie sie sich von einem Kostüm, abends, wenn das Licht schmeichelhaft ist und seine Augen mir keine Angst einjagen. An dem Tag, an dem Nuray ihr von ihrem ersten Kuss erzählte, hatte sie Ayfer einen Rat erteilt, an den sie sich seither hielt: »Hüte dich vor Geheimnissen«, hatte Großmutter ihr geraten, »denn in jedem Geheimnis steckt etwas, das erzählt werden will, Ayfer. Dann bekommst du Schwierigkeiten.«
Der Zug setzte sich in Bewegung, die Platane verschwand aus ihrem Blickfeld. Die Nonne hob immer wieder den Blick aus dem Buch und sah sie prüfend an, als gehe eine Gefahr von ihr aus. Ihre Lippen wirkten spröde, ihr Mund hatte einen harten und unerbittlichen Zug. Das ist es, wovor ich mich fürchte, dachte Ayfer, dass ich auch einen bösen Altweibermund bekomme, einen Mund wie ein Schnabel, ein kleines tiefes Loch, aus dem giftiges Gas strömt. Sie bemerkte den Schaffner erst, als er die Schiebetür mit entschlossenem Ruck aufzog und beschwingt ins Abteil trat. Die Nonne reichte ihm ihre Fahrkarte mit demütig gesenktemBlick, das Buch als Schutzschild vor der Brust. Bevor der Mann Ayfers Fahrkarte entgegennahm, schob er sich die Schaffnermütze aus der Stirn, indem er mit dem Zeigefinger gegen den speckig glänzenden Schild stieß.
»In Linz beginnt’s«, sagte er aufgekratzt, stempelte die Fahrkarte und reichte sie Ayfer zurück.
»Wie bitte?«
»Das sagt man so. In Linz beginnt’s.«
Ayfer nickte und verfluchte sich, dass sie dem Mann eine Frage gestellt hatte; jetzt würde er sich daran erinnern, dass sie nur bis Linz gelöst hatte, sobald er sie das nächste Mal sah. Er nickte ihr zu, trat auf den Gang hinaus und schob die Tür zu.
»Linz gibt es gar nicht«, sagte die Nonne und schlug ihr Buch auf, »das darfst du mir ruhig glauben, Mädchen, Linz ist seine Erfindung, genau wie der ganze Rest da draußen auch.«
An jenem Nachmittag, an dem sie die Schule geschwänzt hatte, waren sie auf dem Rückweg in einen Platzregen geraten und Hand in Hand über die Kettenbrücke in die Altstadt von Aarau hinübergerannt. Nach ein paar Metern
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