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Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Titel: Wald aus Glas: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hansjörg Schertenleib
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hatte sie plötzlich eine Strähne von Davors Haaren im Mund gehabt, so nah waren sie nebeneinanderher gelaufen. Die Strähne hatte nach Gel geschmeckt. »Hast du gewusst, dass ich den Regen stoppen kann?«, hatte Davor gerufen und sich mit ausgebreiteten Armen in den warmen Regen gestellt. Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt, die Arme wie Schwingen auf und nieder bewegt, und gerufen: »Es reicht! Hör auf! Hör jetzt auf!« Zwei Minuten später hatte es aufgehört zu regnen. »Wohin soll ich dich küssen?«, hatte sie ihn gefragt und umarmt.»Auf den Kehlkopf«, hatte er geantwortet, seine Stimme hatte Gänsehaut auf ihre Unterarme gezaubert, »oder in den Nacken. Beiß zu, los, Ayfer, beiß zu!«
    »Es sind nicht zwölf«, sagte die Nonne, »es sind dreizehn. Das hast du nicht gewusst, was?«
    »Dreizehn ist meine Lieblingszahl«, sagte Ayfer.
    »Ich hab drei Lieblingszahlen.«
    Kurz nach dem Halt in Linz hatte ein jüngeres Paar die Abteiltür geöffnet, sich nach einem Blick auf die Nonne, die sie böse anfunkelte, aber anders entschieden und war schnell weitergegangen. Ayfer hatte die Abteiltür zugeschoben, ohne sich um das Flüstern der Nonne zu kümmern, die aufgestanden war und sich erst wieder hingesetzt hatte, als sie begriff, keine Aufmerksamkeit zu bekommen.
    »Achtundachtzig. Zweihundertelf. Und Null.«
    »Null ist keine Zahl.«
    »O doch, mein Kind. Null ist eine Zahl.«
    Ayfer schwieg. Die Nonne hatte begonnen, mit ihrem Oberkörper vor- und zurückzuschaukeln und dabei zu nicken.
    »Alles passiert immer und immer wieder. Bis man tot ist. Früher hört das nicht auf. Aber ich glaub an den Himmel, nicht?«
    Es war besser, das Abteil zu wechseln; der Schaffner würde sich auch wegen der Nonne an sie erinnern und folglich daran, dass sie nur bis Linz gelöst hatte. In Linz beginnt’s! Ayfer stand auf, nahm ihre Tasche vom Gepäckfach und öffnete die Schiebetür.
    »Ich wünsche dir ein glückliches und erfülltes Leben«, sagte die Nonne.
    »Das wünsche ich Ihnen auch«, sagte Ayfer und trat auf den Gang hinaus.
    In den meisten Abteilen, an denen sie vorbeiging, hoben Fahrgäste, die mit dem Gleichgewicht kämpften, weil der Zug über Weichen ruckte, Taschen und Koffer aus den Gepäckfächern. Vor den Fenstern glitten Häuserreihen vorbei, und als Ayfer das Ende des Waggons erreichte, sah sie die Festung, die sie aus dem Geografieunterricht in der Schule kannte, auf dem Burghügel über Salzburg thronen. Sie drängte sich an einem älteren Paar vorbei, das mit zwei Hartschalenkoffern vor der Tür stand; der Mann versuchte, etwas auf einem Blatt Papier zu entziffern, das er mit ausgestrecktem Arm so weit wie möglich von sich hielt. Die Frau warf Ayfer einen verzweifelten Blick zu, ging einen Schritt hinter ihr her und berührte sie sanft am Rücken.
    »Er hat wieder seine Lesebrille vergessen«, sagte sie. »Bitte helfen Sie uns!«
    Ayfer blieb stehen, nahm dem Mann den Computerausdruck aus der Hand und sah erstaunt, dass er eine Brille aufhatte. Seine Stirn war nass vor Schweiß, seine Hand zitterte.
    »Das ist die andere«, sagte die Frau, »die andere Brille, meine ich. Bitte, wir müssen umsteigen.«
    »Wie spät ist es denn?«, fragte Ayfer.
    Die Frau packte das linke Handgelenk ihres Mannes und hielt Ayfer seine Armbanduhr vor die Nase. 14 Uhr 02. Der Handrücken war voller Altersflecken; der alte Mann hatte bis jetzt kein Wort gesagt. Das Paar fuhr nach Bad Ischl weiter, sah Ayfer auf dem ausgedruckten Fahrplan, ihr Anschlusszug ging erst in zwanzig Minuten.
    »Sie haben viel Zeit«, sagte sie, »fast zwanzig Minuten. Ihr Zug fährt auf Gleis 7.«
    »Genau wie ich gesagt habe«, sagte der Mann.
    »Das hast du nicht, nein, Andreas, das hast du nicht«, sagte die Frau kalt und nahm Ayfer den Ausdruck ab, ohne sich zu bedanken.
    Dann bückte sie sich und ergriff den kleineren der Koffer. Sie hatte den gleichen harten, verkniffenen Mund wie die Nonne. Der Mund meiner Großmutter ist bis zuletzt weich geblieben, weich und rund und voller Leben, selbst auf dem Totenbett. Ayfer ging durch den Durchgang in den nächsten Waggon und sah den Schaffner auf sie zukommen. Sein Blick verriet, er hatte sie erkannt. Sie drehte um und ging schnell zurück, vorbei an den beiden Alten, die steif nebeneinander standen und ihr unbeteiligt nachsahen. Mittlerweile waren aus allen Abteilen Leute mit ihrem Gepäck auf den engen Gang hinausgetreten. Ayfer murmelte Entschuldigungen, während sie sich durch den Waggon

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