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Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Titel: Wald aus Glas: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hansjörg Schertenleib
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drängte. Der Schaffner folgte ihr, eine Hand in die Höhe haltend, als wolle er sich zu Wort melden. Der Zug hielt an, Fahrgäste gegeneinander werfend, die sich an Koffergriffe klammerten, als gebe ihnen das Halt. Die Tür schob sich zischend auf, es roch nach Eisen wie auf jedem Bahnhof. Die Luft war kühl und frisch, das Licht klar, als sei es gereinigt worden. Ayfer sprang als Dritte aus dem Zug und fing sofort an zu laufen. Auf der Treppe duftete es nach Pommes. In der Unterführung stand ein Bettler, eine leuchtend rote Blume in der Hand. Er strahlte sie an, als habe er sie erwartet.

21
    Auf der Sitzbank neben der Treppe zur Unterführung lag eine Reihe zerknüllter Papiertaschentücher, eines neben dem anderen. Roberta hätte sich auf dem Bahnsteig gern die Beine vertreten, aber die Fahrgäste, die wie sie in Salzburg ausgestiegen waren, strebten dichtgedrängt die Treppe hinunter, und es blieb ihr nichts anderes übrig, als mitzugehen, von allen Seiten geschoben, bedrängt und geschubst. In der Unterführung stand ein Mann in zerlumpten Kleidern, eine rote Schnittblume in der Hand wie ein Geschenk, das er weitergeben würde, sobald er wusste, an wen.
    Erst vor dem Bahnhof, der umgebaut wurde, weshalb sie durch enge Passagen und lange Durchgänge geleitet wurden, konnte sie sich aus der Menge befreien und endlich stehenbleiben. Prinz hockte neben ihr auf dem Pflaster und sah sie an, wie er es in den letzten Tagen oft getan hatte: aufmerksam und zugleich nachdenklich, als wisse er mehr, als ein Tier wissen kann. Zweiundsiebzig Jahre, ein Wimpernschlag, dachte sie und betrachtete den Festungsberg mit der Hohensalzburg am anderen Ufer der Salzach, zweiundsiebzig Jahre, ein Wimpernschlag, mehr nicht, ein stiller, aus der Zeit gefallener Nachmittag, schon ist es vorbei, ein Menschenleben. Kaum ist es hell geworden, dämmert es schon wieder und wird finster. Als sie Salzburg das erste Mal besucht hatte, mit der Abschlussklasse der Volksschule Ebensee, nach dem Ende der amerikanischen Besatzung im Herbst 1955, war sie fünfzehn Jahre alt gewesen. Ihr Lehrer hatte einen jungen Mann engagiert, einen Studenten der Geschichte, der sie nicht nur durch die Altstadt und die Burg führte, sondern ihnen auchdie neuen Viertel zeigte, die nach der Zerstörung durch die Amerikaner 1944 und 1945 wiederaufgebaut worden waren,  und den Stahlbetonbau am Hanuschplatz, den man »Mississippidampfer« nannte. Als der junge Mann vor Mozarts Geburtshaus in der Getreidegasse vor die Klasse getreten war, um sich vorzustellen, hatte Roberta gewusst, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben verliebt war. Gleichzeitig fiel ihr der Satz ein, den ihr die Mutter als Lebensweisheit mit auf den Weg gegeben hatte: »Die Liebe macht das Leben leichter, zugleich aber auch schwerer.« Zu Mozart und seiner Musik hatte Leopold damals kein Wort verloren, das hatte er ihrem Lehrer überlassen; als sie aus dem Geburtshaus des Komponisten getreten und zum Hagenauerplatz gegangen waren, hatte er die Führung übernommen. Roberta war nicht die Einzige gewesen, die sich in den hochaufgeschossenen Jungen mit dem kastanienbraunen Haarschopf an der Schwelle zum Mann verliebt hatte. Er verwandelte eine Schar albern kichernder Schulmädchen in junge Frauen, die sich mit gestrafften Schultern bemühten, reif und doch jung zu erscheinen. Er machte aus Freundinnen Rivalinnen, die unerbittlich um seine Gunst buhlten. Leopolds Blick erinnerte Roberta daran, dass der Krieg vorbei war und dass sie das Leben in vollen Zügen genießen wollte, gleichzeitig verrieten seine Augen eine Verletzlichkeit, die ihr unerklärlicherweise Angst einjagte. Es war aufregend, aber auch gefährlich, Leopold zu nahe zu kommen, wie sie erstaunt begriff. Gefährlich! Sie konnte verbrennen in der Hitze, die er ausstrahlte. Alles an ihm hatte ihr gefallen, an jenem Tag im Herbst 1955, sogar seine kleinen schiefen Zähne, auch wenn sie ihn attraktiver fand, wenn er den Mund nicht öffnete.Und am Ende der Führung durch Salzburg war sie ihm natürlich doch zu nahe gekommen, sie gingen durch die Festungsgasse vom Festungshügel in die Altstadt hinunter und fanden sich plötzlich ein Stück hinter den anderen, sie zwei allein auf dem steilen Kopfsteinpflaster. Da hatte sie alle Vorsicht vergessen und nach seinem Arm gegriffen, den er ihr anbot, sie hatte sich an ihn geschmiegt und mit ihm verabredet, am nächsten Tag schon, im Café Zauner in Bad Ischl. Eine Woche später hatte sie mit Leopold

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