Wald aus Glas: Roman (German Edition)
geschlafen, im Haus seiner Eltern, dessen Garten an die Ischl grenzte, in der Nähe der Kaiservilla, in seinem Jungenzimmer unter dem Dach, mit seiner Sammlung von Schneckenhäusern auf dem Fenstersims. Leopolds Mutter hatte im Garten Unkraut gejätet, fröhlich trällernd, während Roberta ihre Unschuld verlor, Leopolds Beteuerungen im Ohr, es sei auch für ihn das erste Mal.
Und jetzt war sie wieder in Salzburg, siebenundfünfzig Jahre später. Roberta trat an die gedeckte Bushaltestelle und blieb vor dem ausgehängten Fahrplan stehen. Auf der Sitzbank lag eine Zeitung, die sich im Wind bewegte. Die Schrift des Fahrplanes war so klein, dass sie die Lesebrille brauchte. Sie ließ den Rucksack vom Rücken gleiten und stellte ihn auf den Boden, zog den Reißverschluss des Seitenfaches auf und wollte das Brillenetui herausnehmen, da hupte ein Lastwagen, tief und laut, ein Klang aus einer anderen Welt. Prinz machte vor Schreck einen Satz zurück und zerrte sie an der Leine hinter sich her aus dem Haltestellenhäuschen. Sie stolperte über ihren Rucksack, und er kippte auf den Gehsteig. Hätte sie die Leine nicht losgelassen, wäre sie wohl selber hingefallen, so ging sie nur in die Knie, als sei sie plötzlichsehr, sehr müde. Um wieder zu Atem zu kommen, stützte sie sich mit beiden Händen auf dem Asphalt ab. Prinz blieb stehen, laut hechelnd, mit schräg gelegtem Kopf, und wartete ebenfalls ab. Würde sie ihn ausschimpfen?
»Kommen Sie, ich helfe Ihnen.«
Eine junge schwarzhaarige Frau ging vor ihrem Rucksack in die Knie und stellte ihn auf, dann griff sie Roberta unter die Arme und half ihr auf die Beine. Roberta atmete tief durch, die Arme in den Hüften aufgestützt. Jetzt bin ich also auch zu einer dieser alten Frauen geworden, die im Weg stehen und Löcher in die Luft starren wie eine, die am helllichten Tag träumt oder den Verstand verloren hat, weil sie sich immerzu an früher erinnert, dachte sie und wollte sich bei der Frau bedanken, doch die war bereits weitergegangen, ohne sich nach ihr umzudrehen. Roberta ging zu ihrem Rucksack hinüber, nahm die Lesebrille heraus und trat an den Fahrplan. Ihr Bus nach St. Gilgen ging um 15 Uhr 20; es blieb ihnen etwas mehr als eine Stunde Zeit, um sich die Orte ihrer Vergangenheit noch einmal anzusehen. Nicht die Zeit macht uns alt, sondern die Erinnerung an unsere Jugend! Der Gedanke stand vor ihr wie der Unbekannte, der aus der Dunkelheit vor einem auftaucht und von dem man nicht weiß, will er uns erschrecken oder erfreuen? Sie schwang sich den Rucksack auf den Rücken, ergriff Prinz’ Leine und ging los.
Auf der Rainerstraße wandten sie sich nach links, Richtung Salzach. Waren sie damals auch diese Strecke gegangen? Hatte es die Rainerstraße 1955 überhaupt gegeben? Flieger der US-Armee hatten Teile der Stadt doch in Schutt und Asche gebombt. Hör auf, an früher zu denken! befahl sie sich.Du bist jetzt hier, jetzt! Die Zeit, dich in der Rückschau an diesen Augenblick zu erinnern, in dem du mit deinem Hund in Salzburg auf der Rainerstraße Richtung Altstadt gehst, diese Zeit wird dir nicht gegeben sein!
Am Ufer der Salzach angekommen, gingen sie auf dem Elisabethenquai flussaufwärts; Roberta hatte sich den Weg am Computer der Bibliothek des Altenheimes auf Google-Maps herausgesucht. Beim Sacher-Hotel würden sie den Fluss auf dem Makartsteg überqueren und in die Altstadt gelangen. Eine blasse Sonne stand am Himmel, von den Bergen pfiff ein kalter, böiger Wind durch das Becken, in dem die Stadt lag. Es riecht nach Schnee, dachte sie und vergrub die linke Hand in der Tasche ihrer Jacke. Prinz sah sich immer wieder nach ihr um und ging, als wolle er den Boden mit seinen Pfoten so kurz wie möglich berühren. Ein sicheres Zeichen, dass er ebenfalls fror. Sie waren eben am Müllner Steig vorbeigegangen, da kam ein Mann auf sie zu, verwahrlost und in ihrem Alter. Er trug einen wadenlangen schwarzen Mantel, Cordhosen und eine Wollmütze, um seine Schuhe hatte er Lumpen gewickelt und mit Packschnur festgebunden. War es der Mann aus der Bahnhofsunterführung, der Mann mit der Schnittblume? Der Einkaufswagen, den er vor sich herschob, war mit verschnürten Abfallsäcken, Taschen und Tüten vollgestopft. Roberta versuchte an dem Mann vorbeizugehen, aber er versperrte ihr den Weg, und es blieb ihr nichts anderes übrig, als stehenzubleiben.
»Noch eine«, sagte der Mann.
»Was?«
Sein Gesicht war wettergegerbt, der Bart, der ihm bis zurBrust reichte, grau und
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