Wald aus Glas: Roman (German Edition)
Auf weiter entfernten, höheren Bergen, von Gerölladern durchzogen, lag Schnee. Obwohl die Landstraße nach St. Wolfgang auf der anderen Seeseite verlief, konnte sie das Rauschen des Verkehrs hören, ohne die Autos zu sehen. Für einen Augenblick dachte sie daran, das Zelt gleich hier aufzubauen und sich hinzulegen und auszuruhen, dann tätschelte sie Prinz den Schädel und ging weiter. Ihr Sohn kam ihr in den Sinn, sie sah ihn vor sich, er lächelte, er war jung, ein Kind, das sich freut, weil seine Mutter neben ihm am Frühstückstisch sitzt und ihm den warmen Kakao zubereitet, ohne den er sich nicht vorstellen kann, die Elternwohnung Richtung Schulhaus zu verlassen. Ich werde ihn nie mehr wiedersehen! Die Gewissheit jagte ihr keinen Schrecken mehr ein, sie hatte sich damit abgefunden, sieselbst hatte dafür gesorgt, dass es so war. Die Kunst des Gehens besteht darin, vor Einbruch der Dunkelheit zurück zu sein. Wo hatte sie das gelesen? Aus all den Büchern, die sie in die Regale zurückgeräumt und in denen sie gedankenverloren geblättert hatte, waren offenbar doch Sätze in ihr hängengeblieben, Sätze, die nun wie blinde Passagiere irgendwo verborgen in ihrem Inneren mitreisten und sich in unerwarteten Augenblicken zeigten. Sie versuchte, an gar nichts zu denken und einfach nur zu gehen, immerhin hatte sie ein Ziel, doch es war, als habe die Erinnerung an ihren Sohn als Schuljunge eine Tür aufgestoßen, die sie nicht wieder zu schließen vermochte. Sie sah ihren früheren Mann Herbert vor sich, er stand in Socken am Fußende des Bettes auf dem braunen, flauschigen Vorleger, den sie verabscheute, und versuchte, ungeschickt mit dem Gleichgewicht kämpfend, in die Unterhose zu steigen. Er saß auf dem Sofa, müde und niedergeschlagen von einer Arbeit, die ihm nicht gefiel, und sah sie dankbar an, weil sie ihm ein Bier aus dem Kühlschrank holte, ohne ihn mit Fragen zu belästigen. Er lag in seinem kippbaren Ledersessel vor dem Fernseher und schlief, das Kinn auf die Brust gesunken, mit offenem Mund, geballter Faust und unschuldigem Kindergesicht. Roberta sah den Kalender mit den Landschaftsfotos vor sich, den sie Jahr für Jahr an die Tür des Besenschrankes ihrer früheren Küche gehängt und vor dem sie so oft gestanden hatte, mit verschränkten Armen träumend. Sah den Fensterrahmen in ihrem Schlafzimmer, von dem die Farbe blätterte, weshalb immer wieder neue Umrisse und Formen entstanden, in die sich Dinge hineinlesen ließen, Tiere und Gesichter, Häuser und Bäume, Fratzen, Wörter.
Roberta blieb stehen und atmete tief durch. Der Weg führte dicht dem Ufer des Wolfgangsees entlang und immer wieder durch Waldstücke, in denen das Licht dämmriggrün war, als befinde sie sich unter Wasser. Manchmal glitten irrlichternde Sonnenreflexe über die Oberfläche des Sees, angefacht vom Wind, der stärker geworden war und Tannen und Föhren in Schaukelbewegungen brachte. Ein Vogel ließ sich von einem Ast fallen wie eine überreife Frucht, fing sich dicht vor dem Boden ab und stieg in den Himmel. Der Ruderer war verschwunden, dafür sah sie das Dreieck eines Segelschiffes, das in St. Wolfgang auslief und Fahrt aufnahm. Die Farbe des Wassers hatte sich verdunkelt, es war unergründlich und wolkig, als sei ein großes Tintenfass hineingekippt worden. Roberta machte ein hohles Kreuz, um das Gewicht des Rucksackes zu verlagern. Mir blüht noch etwas, dachte sie, zum Glück. Ein Reiher stand wie ein eingerammter Pfahl im Schilf. Auf den Ufersteinen lag Schwemmholz, knochenweiß gebleicht, der Weg war mit Tannenzapfen bedeckt, die unter ihren Schritten krachten und knirschten. Die Unterlage war Prinz unangenehm, er tänzelte wie ein Rennpferd neben ihr her und sah sie strafend an, als sei sie schuld an seinen schmerzenden Pfoten.
»Wir sind bald da«, sagte sie zu ihm.
Roberta hatte sich vorgenommen, das letzte Stück auf ihrem Weg nach Hause zu Fuß zurückzulegen, drei, höchstens vier Tagesmärsche, dann waren sie in Ebensee. Ich darf mich nicht beeilen, dachte sie, oder nein, falsch, ich will mich nicht beeilen. Fünfundfünfzig Jahre. Die Gore-Tex-Jacke kam ihr plötzlich wie eine Rüstung vor, schwer wie ein Kettenhemd. Vor was willst du dich denn schützen, du Närrin!Für das, was dich erwartet, die Begegnung mit deiner eigenen Vergangenheit, mit deiner eigenen Herkunft, gibt es keinen Schutz.
Der Waldweg mündete in einen breiten, bekiesten Uferweg, der über eine Wiesenterrasse führte. Dort stand, neben
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