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Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Titel: Wald aus Glas: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hansjörg Schertenleib
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Kienesberger in einer leeren Küche sitzen, eine Tasse Tee vor sich; der Hund hockte neben ihr, seine Schnauze lag auf ihren Oberschenkeln. Eine Wanduhr tickte viel zu laut. Die Küche war winzig und dunkel. Auf der Küchenzeile lagen ein glänzender Apfel und ein Messer. Das Tischtuch war aus Wachstuch, grün-blau, und wenn Roberta Kienesberger ihre Hände, die flach vor ihr lagen, nach einer Ewigkeit, die keine drei Minuten gedauert hatte, hochhob, blieben sie auf dem Tuch kleben und lösten sich mit einem Schmatzen. Ayfer sah die alte Frau in einem Ehebett liegen, alleine, auf dem Flur brannte Licht, der Hund lag neben ihr in einem Korb, der knarrte, wenn er sich im Schlaf bewegte; die alte Frau lag auf dem Rücken, starr und mit geöffneten Augen, als habe sie fürchterliche Angst, und manchmal, manchmal räusperte sie sich und hob den Kopf, als habe sie etwas gehört.
    Ayfer war über eine halbe Stunde in der Kabine sitzen geblieben, die Knie an die Brust gezogen, gebadet von einem goldenen Licht, das sie beinahe mit dem Diebstahl und sich selbst versöhnte, um sich das Leben der alten Frau auszumalen und sich damit selbst aus dem Weg zu gehen. Andere Frauen hatten die Bahnhofstoilette betreten, waren gekommen und gegangen. Eine Frau hatte laut geweint, eine andere hatte gelacht, eine Dritte ununterbrochen geredet, leise, aber eindringlich, als müsse sie jemanden überzeugen, bestimmt in ein Handy, denn die Frau war allein gewesen, in einer Sprache, die Ayfer nicht kannte. Dann war Ayfer plötzlichaufgestanden, erwacht aus Träumen, die sie nicht über ihre Schuld hinwegtrösten konnten. »Kommen Sie, ich helfe Ihnen.« Sie hatte das Geld eingesteckt, auch die Münzen, bis auf vier Euro und fünfzig Cent, die sie auf dem Boden auslegte, als mache das den Diebstahl ungeschehen. Sie war auf den Toilettensitz gestiegen und hatte Roberta Kienesbergers Geldbeutel im Spülkasten versenkt.
    Der Zug fuhr pünktlich um 16 Uhr 02 in Salzburg ab. Ayfer hatte das erste Mal in ihrem Leben eine Fahrkarte für die 1. Klasse gelöst. Sie legte die rote Plastikblume auf das Tischchen unter dem Fenster und ließ sich in das Polster zurücksinken, verblüfft über die Ruhe, die in dem Großraumwagen herrschte, beruhigt vom weichen Teppich unter ihren Füßen, vom Rauschen des Zuges, der rasch Fahrt aufnahm, beruhigt von der Landschaft, die an ihr vorbeigezogen wurde, ohne dass es sie etwas anging, müde und beruhigt vom Rascheln der Zeitung, die der Mann las, der drei Reihen von ihr entfernt saß und ihr ab und zu einen gütigen, fürsorglichen Blick zuwarf, als passe er auf sie auf und wolle ihr sagen: Schlaf, Kind, du bist in Sicherheit, schlaf, du hast es verdient.

23
    Schnell, als wolle sie es vermeiden, gesehen zu werden, ging Roberta von der Busstation Billroth auf der Hauptstraße Richtung See. Der Ortsteil schien unbewohnt, ausgestorben.Im Vorgarten eines Hauses hingen mehrere Meisenkugeln vom letzten Winter in den Zweigen, eines der blauen Netzchen war zerfetzt, bestimmt von den Schnäbeln der hungrigen Vögel; hinter einer Hecke wisperte ein Rasensprenger, dabei würde es bald regnen. Sie begegnete keinem Menschen. Der Mann, der im Bus schräg vor ihr gesessen hatte, war eingeschlafen, sobald sie in Salzburg losgefahren waren; den Kopf ans Fenster gelehnt, hatte er mit offenem Mund geschnarcht. Hinter dem Fahrer hatte eine jüngere Frau Platz genommen, die Hut und Tracht trug und einen Aktenkoffer mit Zahlenschloss auf den Knien hatte. Der Mann in der nächsten Reihe, der sich immer wieder zärtlich durch seine blonden Locken fuhr, war in Fuschl am See ausgestiegen. Sonst war der Bus leer gewesen. Der Fahrer, bei dem Roberta die Fahrkarte löste, hatte sich nur für Prinz interessiert, nicht für sie. Sie war eine alte Frau mit Hund und Rucksack, die Wanderstiefel trug. Das mochte komisch sein oder seltsam, interessant war es offenbar nicht. In Koppl bei Salzburg war ein Junge eingestiegen, sieben oder acht Jahre alt, und hatte sich auf der anderen Seite des Mittelganges in die gleiche Reihe gesetzt wie sie. An seinem Schulrucksack hingen ein Plüschäffchen, ein Ritter aus Plastik, der ein Schwert in die Höhe streckte, und ein Wimpel, von dem sie nicht wusste, gehörte er zu einer Nation oder zu einem Sportverein? Weil der Junge seinen Rucksack nicht abnahm, war ihm nichts anderes übriggeblieben, als sich auf die vorderste Kante des Sitzes zu setzen und mit beiden Händen an der Vorderlehne abzustützen.
    »Meine

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