Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Titel: Wald aus Glas: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hansjörg Schertenleib
Vom Netzwerk:
Lieblingstiere sind Meerschweinchen.«
    Roberta hatte den Jungen freundlich angelächelt, abernichts gesagt. Sie machte sich nichts aus Meerschweinchen, sollte sie das dem Kind etwa mitteilen? Er hatte sie aufmerksam gemustert und dann, offenbar hatte er Atem geschöpft, mit Fragen bombardiert, ohne sich um Antworten zu kümmern. Ist das dein Hund? Wie heißt dein Hund? Hast du einen Mann? Wie viele Söhne hast du? Bist du alt? Magst du Karotten? Erdäpfel? Warum gibt es Hunde? Stirbst du vor deinem Hund, oder stirbt er vor dir? Dann hatte er sich von einer Sekunde zur nächsten von ihr abgewandt und mit seinem Gameboy beschäftigt, ohne sie noch eines Blickes zu würdigen. Am Busbahnhof in St. Gilgen war sie vom Bus 150 in den Bus 356 umgestiegen und die kurze Strecke bis St. Gilgen Billroth gefahren.
    Roberta bog auf einen geteerten Weg, der durch eine gemähte, sanft abfallende Wiese führte. Auf einer Koppel stand ein Pferd, ohne sich zu rühren; nur der Dampf, der aus den Nüstern stieg, verriet, dass es keine Statue war. Es fing an zu regnen, Prinz hechelte, sie hörte ihren eigenen Atem, fühlte sich müde und erschlagen. Beine und Rücken taten ihr weh, sie hatte Seitenstechen und Schmerzen in beiden Knien. Sie war verloren, fast allein. Trotzdem wünschte sie sich an keinen anderen Ort. Es war richtig, dass sie hier war, auf diesem Teerweg, der in einen Feldweg am Seeufer mündete, in Regen und Wind, den Spiegel des Wassers unter sich. Ich möchte an den Ort zurückkehren, von dem ich stamme, dachte sie, es wird mir helfen, mit dem Leben abzuschließen. Wann hatte sie angefangen, den Wind zu fürchten? Der Schatten des bewaldeten Hügelzuges, an dessen Fuß der Weg langlief, zerfloss im trüben Tageslicht konturlos im See. Als Kind war sie an der Hand ihres Stiefvaters Johann über krachendesEis gegangen, nicht weit von hier, über einen gefrorenen Tümpel mitten im Wald, in dem sein Bruder, der aus dem Krieg zurückgekehrt war wie er, Holz schlug. Sie spürte die schwielige Hand, die nach Holz und Harz gerochen hatte, als gehe er wie damals neben ihr Richtung St. Gilgen, zwischen den Zähnen die Pfeife mit dem Tabak, den er aus der Kriegsgefangenschaft mitgebracht hatte. Seit wann ging ihr die Kälte durch und durch? Sie hatte sich vor dem dunklen Wasser unter dem krachenden Eis gefürchtet, im blauen Schneelicht jenes längst vergangenen Tages, und sich dennoch sicher gefühlt, beschützt von einem Mann, der nicht ihr Vater war. Ist man einsam, fragte sie sich, wenn man alleine ist mit seinen Erinnerungen, oder bedeutet es, dass man alt ist, an der Schwelle zum Tod? Für einen jungen Menschen klingen meine Erinnerungen wie eine Erzählung aus einer untergegangenen Zeit, ein Märchen, das war ihr bewusst.
    Der Weg führte durch eine begraste Senke, in der Silberpappeln standen, als seien sie Teil einer stummen Versammlung. Auf der Steigung, die aus der Senke führte, geriet Roberta außer Atem und musste stehenbleiben. Es war jetzt heller geworden, der Regen hatte aufgehört. Die Schnittflächen des Holzes, das gestapelt in einem gedeckten Verschlag am Waldrand lag, leuchtete gelb. Hinter dem Verschlag stand eine Hütte, notdürftig aus Holzlatten zusammengezimmert und mit Teerpappe gedeckt. Sie ging keuchend weiter, ihren Hund an der Leine, der ebenfalls erschöpft wirkte. Ihre linke Hand suchte immer wieder den Stein in ihrer Hosentasche, der sich glatt und warm anfühlte. Da und dort fielen Sonnenstrahlen durch das Blätterdach und schufen helle Inselnauf dem dunklen Waldboden. Sie sah Spinnennetze glitzern, zwischen Stämmen aufgespannt und in einem Wind schaukelnd, den sie nicht spürte, aber auf der Oberfläche des Sees erkannte; es war, als liefe ein Kräuseln durch die Bucht, ein Schauer, ähnlich der Gänsehaut, die sich auf ihrem Rücken ausbreitete, sobald Leopold sie an den Waden berührt hatte. Ein Mann ruderte, mit dem Rücken zur Fahrtrichtung, dicht dem Ufer entlang. Wann hat mich das letzte Mal jemand an den Waden berührt, abgesehen von Arzthelferinnen, Therapeuten oder meinem Hausarzt? Weiter draußen war der See glasklar und unbewegt. Über den Bergen am anderen Ufer brodelte Gewölk, als junge Frau war sie dort am Zwölferhorn gewandert und plötzlich in einem Meer von Edelweiß gelandet, in einem Sommerlicht, klar und durchsichtig wie im Traum vom Glück. Zwölferhorn! Schon wieder ein Wort, das sie jahrzehntelang nicht gedacht oder ausgesprochen hatte und das ihr nun wieder einfiel.

Weitere Kostenlose Bücher