Wald aus Glas: Roman (German Edition)
hatten.
»Polizei? Seid ihr Türken oder schwule Schweizer? Polizei!«
»Liebst du mich?«
Sie erschrak selbst über ihre Frage und ging ein paar Schritt auf und ab. Auf dem nächsten Bahnsteig stand eine Reisegruppe, Männer in Trachtenjacken, die Hüte mit Gamsbärten trugen und sich um eine Frau in einem Lodenmantel scharten, die ihnen offensichtlich etwas erklärte.
»Mega«, sagte Davor leise.
»Mega«, wiederholte Ayfer.
Er liebt mich mega. Ein Zug raste durch den Bahnhof, drei Gleise von ihr entfernt, trotzdem war es unmöglich, etwas zu verstehen. Sie sah Gesichter vorbeiwischen, Farbschlieren, Menschen mit Träumen, mit Ängsten. Die Gleise sangen, die Achsen ratterten. Sie spürte den Fahrtwind des Schnellzuges wie eine Berührung auf ihrem Gesicht und streckte das Handy in die Höhe. Er sollte hören, was sie hörte. Sie hatte das Wort schon immer gehasst. Mega. Seine Stimme quäkte aus dem Handy, und für den Bruchteil einer Sekunde stelltesie sich vor, ihn nie wiederzusehen. Sie hatte ihn gar nie kennengelernt, es gab ihn nicht, für andere Mädchen schon, für Mädchen, die sich an ihn drängten, wenn er telefonierte, und schrill lachten, für die gab es ihn, aber nicht für sie. Dann drückte sie das Handy an ihr Ohr.
»Wo bist du, Scheiß?«
»Ich komm um 21 Uhr 20 in Zürich an. Du musst mich abholen.«
»Heute? In Zürich? Und wo, Ayfer, wo!«
»Am Bahnhof, wo sonst, Garmschmal.«
Sie unterbrach die Verbindung, ohne seine Antwort abzuwarten. Es lag an ihm, sie abzuholen, sie hatte keine Lust, ihn dazu zu überreden. Auf der Treppe in die Unterführung hörte sie, wie eine SMS hereinkam. Sie schaltete das Handy aus, ohne nachzusehen, ob die Nachricht von ihm war. Der Mann mit der Blume stand immer noch in der Unterführung. Als er sie sah, trat er auf sie zu und überreichte ihr die rote Blume. Sein Gesicht zeigte keine Regung, Ayfer dachte an eine Maske, die etwas darstellte, das sie aber nicht verstand. Die Blume war aus Plastik. Der Mann deutete eine Verbeugung an, drehte sich um und ging weg.
Der Geldbeutel der alten Frau hatte vor dem umgekippten Rucksack auf dem Gehsteig gelegen, sie hatte ihn, ohne nachzudenken und ohne zu zögern, eingesteckt. Dann hatte sie den Rucksack aufgerichtet und der Alten aufgeholfen. Der Hund hatte sie angesehen, als wisse er Bescheid. Ich musste es tun, ich will nach Hause. Ayfer verbot es sich, an ihre Großmutter zu denken und daran, was sie zu ihrem Diebstahl gesagt hätte. »Kommen Sie, ich helfe Ihnen.« Wie verlogendu bist! Die Frau war leicht gewesen, drahtig, ein Teenager wie ich. »Kommen Sie, ich bestehle Sie.« Sie hatte der Frau aufgeholfen und war weggegangen, ohne sich umzusehen, und hatte sich auf der Bahnhofstoilette in eine Kabine geschlossen, um den Geldbeutel zu durchsuchen. Die Scheibe hoch über ihr, schlieriges Milchglas, war aus Gold gewesen, so hell hatte die Sonne gestrahlt, als sie die Euroscheine zählte. Drei Fünfziger, vier Zwanziger, vier Zehner und ein Hunderter. Dreihundertsiebzig Euro. Die Münzen waren aus der Schweiz. Dreizehn Franken und vierzig Rappen. Warum versetzte es ihr einen Stich, dass die Frau, der sie das Geld gestohlen hatte, ebenfalls aus der Schweiz kam? Sie hieß Roberta Kienesberger, wie auf dem Ausweis ihrer Krankenkasse stand. Geboren am 25. Mai 1940. Zweiundsiebzig Jahre alt. Ayfer fand Visitenkarten einer Schreinerei, einer Pizzeria in Lenzburg und eines Hundeheimes in Birrwil, einen AHV-Ausweis, eine Halbtaxkarte der SBB, aber kein einziges Foto, kein Bild, keine Adresse, keine Kreditkarten. Lenzburg! Die Frau kam also wahrscheinlich nicht nur aus der Schweiz wie Ayfer, sie wohnte vielleicht sogar in ihrer Nähe. Sie fand nur etwas Persönliches, ein vierblättriges Kleeblatt, das zwischen den Visitenkarten lag. Der Geldbeutel war aus braunem, abgeschabtem Leder, roch muffig und sah aus, als gehörte er einem Mann. Einem alten Mann.
Ayfer versuchte sich vorzustellen, wie die alte Frau lebte und warum sie hier in Salzburg mit Rucksack und Hund unterwegs war. War sie verheiratet, hatte sie Kinder? Was hatte sie gearbeitet? War ihr Mann vor kurzem gestorben, und ihr Leben war auseinandergebrochen? War sie glücklich, war sie verzweifelt? Oder hatte sie eine unheilbare Krankheit, Krebs,wie ihre Großmutter, und war auf ihrer allerletzten Reise? Wohin war sie unterwegs? Oder lebte sie in Salzburg? War sie aufgeschmissen ohne das Geld, das sie ihr gestohlen hatte? Ayfer sah die Frau mit Namen Roberta
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