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Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Titel: Wald aus Glas: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hansjörg Schertenleib
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bin ich hier und weiß nicht, wie es weitergehen soll. Doch, dachte sie plötzlich, ich weiß es.
    Sie stand schnell auf, ging zum Esstisch hinüber, nahm ihr Handy und wählte die Nummer ihrer Eltern, ohne sich die Zeit zu geben, darüber nachzudenken, ob es richtig oder falsch war. Wenn Vater abhebt, lege ich auf, auch mit meinem älteren Bruder Nadir werde ich nicht reden, denn das hat keinen Sinn, aber Mutter, Mutter wird mich verstehen, ihr kann ich sagen, wo ich bin, ich muss es ihr sagen. Es klingelte zwei Mal, ihr Telefon stand im Gang der Wohnung, dreiMal, auf einer Kommode direkt unter einem Spiegel, darum benutzte sie das Telefon ihrer Eltern nicht gern, weil sie sich unweigerlich beim Telefonieren betrachtete, vier Mal, und sah, was sie für ein Gesicht schnitt, während sie redete, auch wenn sie sich immer wieder vornahm, nicht hinzusehen.
    »Boskül.«
    Ihre Mutter meldete sich mit der unsicheren Stimme, die Ayfer nicht ausstehen konnte, das Zitterstimmchen, an dem ihr Vater schuld war, wie sie wusste. Sie drückte die Augen zu, als wische sie damit das Bild beiseite, das sie im Kopf hatte, das Bild ihrer Mutter, verhärmt und geduckt. Sie hat mir nicht geholfen! Sie setzte sich an den Tisch und sah aus dem Kippfenster des Wohnwagens.
    »Ich bin’s, Mama, deine Ayfer.«
    Sie hörte ihre Mutter scharf einatmen. Wie nah sie sich doch waren und wie fremd! Für einen Augenblick fühlte sie sich älter als ihre Mutter, reifer. Die Tischplatte war mit hellen Ringen übersät, darauf gestempelt von Gläsern und Flaschen. Die Fliegenklatsche, die neben der Tür hing, hatte sie übersehen. Das Schweigen war einfacher zu ertragen, als sie befürchtet hatte. Weinte ihre Mutter? Ayfers Gelassenheit dauerte keine fünf Sekunden; sie hörte ihre Mutter atmen, das machte ihr Angst.
    »Mir geht es gut«, sagte Ayfer, »aber du fehlst mir.«
    Seltsamerweise war der Anblick der rauchenden Frau vor der Halle aus Wellblech beruhigend; die Glut der Zigarette schrieb eine rote, kaum erkennbare Linie in die Luft. War ihre Mutter so verloren, wie Ayfer befürchtete? Freundinnen und Freunde sucht man sich aus, Eltern und Geschwister nicht. Und trotzdem sind sie ein Teil von mir, dachte Ayfer.
    »Alle reden über uns. So darfst du uns nicht behandeln.«
    »Ich gehöre nicht in die Türkei.«
    »Haben wir dich großgezogen, dass du uns beschämst?«
    »Du willst doch auch nicht da hin, Mama.«
    »Wie sollen wir den Leuten in die Augen schauen? Du musst im Haus eingesperrt werden, bis der Tod dich abberuft oder bis Gott dir einen Ausweg schafft.«
    »Wie du redest, ana.«
    »So steht es im Koran.«
    »Seit wann liest du im Koran?«
    »Züchte eine Krähe, und sie wird dir die Augen aushacken. Weißt du, wer das immer gesagt hat?«
    Die Frau ging sogar leicht in die Knie, wenn sie inhalierte, war das neu? Sie trug schwarze Stöckelschuhe. Oder ist es mir bis jetzt nicht aufgefallen? Im Geist stand Ayfer auf und trat einen Schritt zur Seite, als sehe sie sich von außen zu. Natürlich erinnerte sie sich an den Satz ihrer Großmutter. Sie hatte als Kind nicht verstanden, was eine Krähe mit Menschen zu tun hatte. Nun war sie diese Krähe. Als sie wieder aus dem Fenster schaute, war die Raucherin verschwunden.
    »Willst du, dass ich so werde wie du?«, fragte Ayfer.
    »Allahtandami korkmadin? Hast du denn gar keine Angst vor Gott?«
    »Nein. Mama, nicht mehr.«
    »Du bist nicht meine Ayfer«, sagte ihre Mutter und legte auf.

2
    Das Zimmer in der Pension Kirchschlager war klein, Toilette und Bad befanden sich am Gang, aber Roberta gefiel die Kammer mit der abgeschrägten Decke, weil der Blick aus dem Fenster, vor dem ein Tischchen stand, sie an den Blick aus dem Zimmer ihrer Kindheit erinnerte, keine fünfhundert Meter von der Pension entfernt.
    Sie hatte das Zimmer mit den drei Schwestern geteilt, die noch zu Haus bei den Eltern wohnten, Resi, die älteste, war damals bereits in Linz gewesen; drei der sechs Brüder schliefen Wand an Wand mit ihnen, die älteren drei waren im Krieg, einer an der Westfront, zwei in Russland, an der Ostfront wie der Vater, was sie, klein wie sie gewesen war, nicht verstanden hatte. Dass keiner von ihnen zurückkehren sollte, hatten sie damals nicht gewusst, befürchtet schon, aber nicht gewusst, und darum hatten sie jede Nacht für sie gebetet. Karl und Robert, die ältesten, fielen im Sommer 1943 im Donezbecken, Josef, der jüngere, am 6. Juni 1944 in der Normandie, am Tag der Invasion der

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