Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Titel: Wald aus Glas: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hansjörg Schertenleib
Vom Netzwerk:
nicht ihretwegen aufgeregt war, sondern aus lauter Angst, ihr Vater oder einer ihrer Onkel sei auch in Zürich, um sie in Empfang zu nehmen. Sie waren mit dem Auto des Onkels auf Neben- und Landstraßen nach Suhr gefahren, als werde die Autobahn von ihrer Familie überwacht.
    Ayfer fror. Sie kroch unter die Decke, nahm die rote Plastikblume in die Hand und sah aus dem verdreckten Fenster hinter dem Bett. Der Himmel war grau wie das Licht im Wohnwagen. Spaziergänger auf dem Weg hinter dem Zaun gingen so dicht an ihr vorbei, dass sie jedes Wort verstehen konnte, das sie sagten. Ein Mann hatte sie früh mit seinem Lachen geweckt, scharf und jäh wie der Schrei eines aufgestörten Vogels. Sie ließ den Blick langsam durch den Raum wandern. Der Teppich war voller Flecken, die Wände abgenutzt und gelb von all den Zigarren, die Davors Onkel hier geraucht hatte. In der Ecke über der Spüle hatte sich Schimmel an der Decke ausgebreitet, ein schimmernder Fleck, der zu wachsen schien, je länger sie ihn anstarrte. Davor hatte ihr erzählt, sein Onkel brauche den Wohnwagen, um sich mit seinen Geliebten zu treffen, von denen seine Frau natürlich nichts wusste. Nachts hatte Ayfer sich gefürchtet, kaum war sie allein gewesen, gefürchtet vor den ungewohnten Geräuschen, dem Klopfen und Kratzen auf dem Dach über ihrem Kopf und der undurchdringlichen Dunkelheit zwischen den Zirkuswagen, die sie vor neugierigen Blicken schützten, aber auch alles Licht aus- und sie einsperrten. Ein Hund hatte geheult, irgendwo in der Nähe, in den Büschen am Zaun hatte es geraschelt, geraschelt, geraschelt. Und trotzdem warsie irgendwann eingeschlafen, müde von ihrer Reise, die sie nie hatte antreten wollen. Warum haben sie mich in die Türkei geschickt? Jetzt bleibt ihnen die Verachtung der weit verzweigten türkischen Familie, die Ächtung ihrer eigenen Sippe nicht erspart. Das Wiedersehen mit Davor war anders gewesen, als sie erwartet hatte. Weil sie durch die Reise verändert war? Was bedeutet er mir überhaupt? Sie fand ihn angeberisch und selbstverliebt, grob, laut. Sie hatten sich lange geküsst, auf dem Bett liegend, die Decke ans Fußende gestrampelt, obwohl ihr kalt war, aber schließlich hatte sie seine aufdringlichen Hände weggeschoben und war aufgestanden. Seine Angst vor ihrem Vater hatte sie geärgert, es ging schließlich um sie, um ihre Angst, nicht um ihn. An Lebensmittel für sie hatte er auch nicht gedacht; er wollte ihr heute Abend nach der Schule nicht nur Wasser, sondern auch Chips, Brot, Käse, Oliven und einen Döner mitbringen.
    Ayfer hatte Hunger, aber es war zu gefährlich, ausgerechnet in der Mittagszeit bei McDonalds oder in der Migros einzukaufen. Sie durfte sich nicht sehen lassen. Sie war auf der Flucht, verschwunden irgendwo in der Türkei und noch nicht wieder aufgetaucht. Anfangs hatte sie Musik auf ihrem iPod gehört, aber bald befürchtet, deswegen das Geräusch zu verpassen, das ihr verriet, wenn sich jemand dem Wohnwagen näherte.
    Eine Frau rauchte jede Stunde eine Zigarette vor der Wellblechhalle, sie stand genau in dem Ausschnitt, den Ayfer sehen konnte; sie legte den Kopf in den Nacken, wenn sie inhalierte, und machte ein Gesicht, als habe sie Schmerzen, wenn sie den Rauch ausblies. Außerdem strich sie sich immer wieder mit der flachen Hand über die Hüfte und zupfte amStoff ihres engen Rockes herum. Wahrscheinlich fand sie sich zu dick. Arbeitete sie im Geschäft für Bambusmöbel? Organisierte sie Events mit Zirkuswagen? Ayfer drehte sich auf die Seite und zog die Beine an die Brust. Die Plastikblume roch nach nichts, nicht einmal nach Plastik. Die Gardine vor dem Fenster hatte einen Riss, an der Schrankwand klebte ein Werbebutton von einem Campingplatz in Split.
    Ich bin noch nie so lang allein gewesen wie in den letzten Tagen, ging Ayfer durch den Kopf, es gefällt mir nicht, meine Gedanken drehen sich im Kreis, ich fühle mich verunsichert, durchsichtig. Am Anfang der Reise hatte sie an Davor gedacht, jetzt dachte sie an den Mann, den sie vielleicht totgeschlagen hatte. Auch Annika fiel ihr immer wieder ein und die Vorwürfe, die sie sich machte, weil sie weggelaufen war, ohne sich zu verabschieden. Ich hab keine Telefonnummer von ihr und keine Adresse, ich kenne nicht einmal ihren Nachnamen. Ich weiß nur, sie lebt mit ihrem Vater in Wien, und sie hat mir geholfen. Ayfer sah sich in der Schlafkoje des Lastwagens neben Annika liegen und ihrer Ankunft in der Schweiz entgegenfiebern. Und jetzt

Weitere Kostenlose Bücher