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Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Titel: Wald aus Glas: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hansjörg Schertenleib
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Alliierten. Auch ihr leiblicher Vater Robert war »in Russland geblieben«, wie es die Mutter ausdrückte, gefallen 1944 mit 29, am Ufer der Dwina, da war Roberta vier Jahre alt gewesen. Die einzigen Erinnerungen, die sie an ihn hatte, stammten von den zwei Fotos, die sie von ihm gesehen hatte: Auf einem stand er vor seiner Werkstatt, die er sich im Holzschuppen eingerichtet hatte, sein Oberkörper war nackt, er trug die Drillichhosen, die er auch zur Arbeit in der Saline anhatte, war barfuß und stemmte ein Hirschgeweih in die Höhe, aus dem er die Jacken- und Jankerknöpfe schnitzte, für die er weit herum gerühmt wurde.Auf der anderen Fotografie trug er die Wehrmachtsuniform, sie war bei einem der seltenen Fronturlaube gemacht worden, er lehnte rauchend am Bretterzaun, der den Garten abgrenzte, und wirkte traurig und abwesend, dünn war er geworden im Vergleich zum anderen Bild, ein Schatten des Mannes, der das Leben früher an den Hörnern gepackt und dabei laut gelacht hatte, wie die Mutter behauptete.
    Jetzt bin ich am Ziel meiner Reise angelangt, dachte Roberta, und was mache ich? Ich sitze am Fenster, wie ich am Fenster der Bibliothek im Altenheim gesessen habe, und starre in meine Vergangenheit zurück, als bringe dies die Stunden und Tage zurück. Und das tat es in gewisser Weise ja tatsächlich. Sie lag wieder in ihrem Kinderbett und starrte an die Decke, an der die Schatten tanzten, während sie und die Schwestern besprachen, was sie den Tag über erlebt hatten und damit auch gegen den Hunger anredeten, der sie plagte, über den sie aber nie redeten. Im Alter wurden die Erinnerungen zu Gefährten, ja zu Liebhabern, die dafür sorgten,  dass sich die Nackenhaare sträubten, zu geflüsterten Liebkosungen, wenn man nachts nicht schlafen konnte, zu Regentropfen auf der erhitzten Haut, zu einem Blick, einem Lachen, einem Wort, das den Tag erst zu einem geglückten Tag machte. Der Geschmack des Brotes aus Sauerteig, das die Mutter buk. Das Kleid, das sie am ersten Schultag trug, die Schleife im Haar, die nach Lavendel duftete. Die Radiomusik aus dem offenen Fenster im Haus der Großeltern, Gustav Mahler, wenn sie sie sonntags zu Kaffee und Kuchen besuchten, drüben in der Plankau, am Ufer der Traun. Die weißen Masken der Schwesterngesichter, die über den Bettdecken schwebten, wenn sie in der Dunkelheit zusammen inihrem Zimmer lagen. Die fleckige Mutterhand. Der Schnurrbart des Stiefvaters, der zitterte, wenn er sich freute. Das Schnobbern ihres Pferdes, sein Schweif, der über ihren Rücken peitschte. Der Geruch der warmen Kuhfladen im Gras, die Bremsenschwärme. Sie kniete wieder am Fenster ihres Kinderzimmers und sah über ihre Wiese hinweg zur bewaldeten Kuppe hinüber, auf deren Ebene sich das KZ befand, von dem keiner redete und von dem doch alle wussten, auch wenn sie es nach dem Krieg abstritten und leugneten. Die meisten Österreicher wollten nichts mehr davon wissen, dass sie die neuen Herren aus dem Reich 1938 begeistert empfangen hatten. Und Roberta? Sie war tatsächlich zu jung gewesen, um Bescheid zu wissen, sie hatte nur gespürt, dass ihr die bewaldete Kuppe Angst machte, als wohne ein Wesen zwischen den finsteren Stämmen, ein Monster, das es verstand zu schweigen, sich zu verbergen und in aller Stille sein Unwesen zu treiben. Als Teenager hatte sie sich nach endlosen Diskussionen in der Schule um Schuld und Ohnmacht geweigert, die KZ-Ebene zu betreten, sie hatte sich für die Generation ihrer Eltern geschämt, die sich zu Opfern stilisierte, bis sie begriff, dass ihr schlechtes Gewissen keinem half, nur ihr. Danach hatte sie die Gedenkstätte eine Weile lang jeden Tag besucht; sie war über die hellen Kieswege spaziert und hatte den Vögeln zugesehen, die auf den Wipfeln umstehender Tannen und Föhren saßen, und hatte gewusst, es war kein Selbstmitleid, das sie aufwühlte, sondern Mitleid, Mitgefühl und Wut auf eine Generation, die sich hinter einer Lüge verbarg und damit lebte.
    Roberta stand auf und blickte in den Garten der Pension hinunter. In der Nacht würde das Zimmer noch kleiner werden,das wusste sie, eine Nussschale, die sie barg und schützte. Sie hatte das Bedürfnis, ein Stück zu gehen. Nach einer endlosen, schlaflosen Nacht im Zelt am Ufer des Wolfgangsees war sie nicht wie geplant zu Fuß in ihren Geburtsort zurückgegangen, sie hatte in St. Wolfgang ein Taxi bis nach Bad Ischl genommen und war von dort mit dem Zug nach Ebensee gefahren. Nur das letzte Stück vom Bahnhof

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