Wald
dicke Stämme vor sich, durch die das Ross nicht hindurchlaufen kann. Er schlüpft hindurch und schleppt sich weiter. Doch sein Verfolger nimmt keine Rücksicht auf seinen kostbaren Schimmel. Mit der nötigen Gewaltaufwendung treibt er ihn durch den engen Spalt, ohne darauf zu achten, dass die Rinde und lose in der Luft baumelnde Äste dem Pferd etliche Schürfwunden zufügen.
Envin rennt weiter. Durch Gestrüpp, Geäst und über Steinbrocken. Um ihn herum lichtet sich der Wald und es tauchen immer mehr Krieger auf, die aber in ihre eigenen Kämpfe verwickelt sind. Er blickt um sich, ob er irgendwo jemanden entdecken kann, der ihm helfen würde. Da er für einen Moment nicht auf den Boden vor ihm achtet, übersieht er den Abhang, auf den er zu läuft. Envins rechter Fuß knickt ein, als er auf einige nasse Blätter tritt, wegrutscht und mit Wucht auf die linke Seite kracht. Sofort ist er wieder auf den Beinen – trotz der Schmerzen. Sein Herz schlägt genauso schnell wie zuvor, als er gegen den ersten Krieger kämpfte, und obwohl er kaum noch Luft bekommt, ist er in der Lage, weiterzuhumpeln. In seinem Nacken spürt Envin bereits das Schnaufen des Pferdes. Er wirft einen kurzen Blick über die Schulter, um nach seinem Verfolger zu sehen. Zu seinem Entsetzen muss er feststellen, dass der Reiter nur noch wenige Schwertlängen von ihm entfernt ist. Envin schmeißt sich in den Matsch, reißt den Schild schützend über seinen Kopf und wartet darauf, den Knall des feindlichen Schwertes auf dem Holz zu hören. Für einen Moment passiert nichts. Dann auf einmal ein Aufschlag, der seinen kompletten Körper mit unerwarteter Wucht erschüttert. Eine Kraft zerrt unbändig an dem Schild, bis er von Envins Arm heruntergerissen und weggeschleudert wird. Der Verfolger hält einen Morgenstern mit einer langen Kette in seiner linken Hand. Die Spitzen der Eisenkugel hängen in Envins zersplitterten Rundschild fest. Der Angreifer wirft die Waffe auf den Boden und holt mit dem Schwert in der Rechten zum Schlag aus. Envin sieht die Klinge, will seine eigene entgegensetzen, kann seine Arme aber nicht mehr spüren. Seine Wahrnehmung verschwimmt, als das Schwert näher kommt und ihm schwarz vor Augen wird. Es ist ihm, als würde dieser kurze Moment eine Ewigkeit dauern. Mit einem Male sieht er Bilder seiner Kindheit und seiner Jugend in seinen Gedanken aufziehen. Es ist beinahe, als würde er die Erinnerungen erneut durchleben. Envin weiß nicht mehr, wie ihm geschieht. Da ist sein Vater, der Graf von Arravelis, wie er ihm das erste Mal als kleinem Buben erklärt, was die Aufgaben eines Edelmannes und Ritters sind – als da wären ein maßvolles Leben, Zucht, Würde, Höflichkeit, Demut, Beständigkeit und tapfere Mannheit. Und dann ist da er selbst, wie er als siebenjähriger Junge am Grab seiner Mutter steht und weint. Daneben steht sein großer Bruder. Er weint nicht. Im nächsten Augenblick befindet er sich plötzlich im Vorhof des Klosters der Weißen Mönche. Sein Bruder und er trainieren im Schwertkampf. Er sieht, wie Sidus ihm das Holzschwert an den Kopf stößt und er blutend zu Boden fällt. Es folgt der Moment, der sein jugendliches Leben nachhaltig beeinflussen wird. Als er dort liegt, tritt eine junges Mädchen aus einem der Torbogen. Er sieht sie das erste Mal. Ihre langen Haare werden von Sonnenstrahlen umschlossen, die auf ihren Hinterkopf fallen, beinahe so als trüge sie einen Heiligenschein. Sie tritt auf ihn zu, schickt einen abfälligen Blick in Sidus’ Richtung und beugt sich mit einem Tuch in der Hand zu Envin herunter ---
Der Aufprall eines schweren Körpers, der auf Envin fällt, holt ihn zurück ins Reich der Lebenden. Er schiebt die leblose Masse von sich herunter und betastet sich ungläubig am ganzen Körper, um zu überprüfen, ob er tatsächlich unversehrt geblieben ist. Hinter dem Pferd des toten Reiters sieht er seinen Bruder auftauchen, der ihn mit einem scharfen Blick ansieht. Dann, nach einem kurzen Moment der Stille, legt sich ein Lächeln langsam über Sidus’ großen, knochigen Unterkiefer.
»Pah, Envin! Wie lange muss ich noch die Amme für dich spielen und dich aus jeder Gefahr erretten? Erwarte nicht von mir, dass ich dir auch noch meine Brust anbiete, um dich zu stillen«, er lacht mit all der Behäbigkeit, für die seine hohe, kratzige Stimme bekannt ist. »Aus einer Entfernung von bestimmt zehn Ellen musste ich meinen Dolch nach ihm schleudern, sonst wäre es zu spät gewesen. Gar nicht
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