Wald
ist Tag und Nacht. Sonne und Mond. Licht und Schatten. Mutter und Vater. Der Schmerz ist alles.
Was bleibt auf dieser Welt, wenn der Schmerz nicht mehr ist? Und wenn ein Mensch den Schmerz nicht mehr spüren würde? Wenn er sich mit seinem Verstand über die Vergänglichkeit des Schmerzes erheben könnte – was wäre er dann? Gottgleich?
Das Fieber hat Envins Körper ergriffen, im Wahn hat er begonnen zu philosophieren.
Stille. Wieder erwacht Envin aus einem dämmernden Zwischenzustand. Halbtot und halb am Leben. Wenn er nur noch einmal den Menschen in die Finger bekommen würde, der für seine Schmerzen verantwortlich ist – Sidus. Envins Finger verkrampfen sich beim Gedanken an den Bruder. Nein, den Bösewicht, den Teufel! Wenn er ihn jetzt treffen würde, würde er nicht zurückweichen. Wenn er ihn jetzt treffen würde, wäre sein Zorn groß genug, um den Bruder direkt anzugreifen.
In seiner Fantasie malt Envin sich aus, wie er, mit seinen bloßen Händen, den Kopf des Bruders zertrümmert. Diese Visionen erheitern seinen Geist im Todeskampf. Dann nach einiger Zeit sackt er erschöpft in sich zusammen, und die Dunkelheit bricht nun auch in seinem tiefsten Inneren ein.
Der Wald liegt still und kalt da. Die Morgendämmerung hebt sich zärtlich über die Baumkronen und reflektiert das weiche Sonnenlicht im tristen Schnee.
Als Envin erwacht und seine Augen öffnet, weiß er nicht, wo er sich befindet. Das Auge brennt nicht mehr. Lediglich beim Öffnen und Schließen des Lides kratzt es ein wenig. Er sieht sich um. Das ist nicht der Tod. Einige Fuß entfernt findet er sein Schwert, und dann den Rest seines Gepäcks. Dort wo er es hat fallen lassen.
Envin hebt die Klinge auf und betastet sie so gefühlvoll, wie er es noch nie zuvor getan hat.
Er lebt!
Das Schwert legt er hin, dann kniet er nieder und schaufelt so viel Schnee mit beiden Händen in den Mund, wie dieser fassen kann. Die kalte Masse lässt seine Zähne erbeben und seine Lebensgeister zurückkehren. Auch den Kopf wäscht er sich mit dem gefrorenen Brei, der sich auf seinen Haaren verflüchtigt. Er lacht laut auf, als ein Schüttelfrost seinen ganzen Körper erschüttert. Dann wühlt er im Boden nach Wurzeln, die er sogleich laut schmatzend verschlingt.
Er lebt! Er atmet noch, kann laufen und er kann sehen! Die Wunde am Auge scheint schließlich zu verheilen.
Envin steht auf und dreht sich. Dann wird er nachdenklich. Wenn er noch atmet, noch laufen und noch sehen kann – muss er weiterziehen. Aber wohin? Er hebt das Schwert auf. Was wenn er doch nicht umkehren würde, wie ein Feigling? Wenn er seinem Bruder hinterherziehen würde und ihn erschlagen würde? Dann kann Envin als alleiniger Held zurückkehren und die Ehren empfangen, mit denen Sidus seit jeher überhäuft wurde.
Sidus!
Der Name des Bruders stößt ihm bitter auf wie schwarze Galle. Er spuckt vor sich auf den Boden, um den fahlen Geschmack aus seinem Mund zu speien.
Wenn Sidus tot wäre, dann könnte er in die Burg ziehen und Llyle freien!
Envins Finger fahren immer wieder langsam über die Klinge. Den Rückweg findet er sowieso nicht, bevor sich nicht zuvor der Winter verzieht. Envin sieht den Hügel hinauf. Es kann nicht schwer sein Sidus zu finden. Sidus zieht immerzu den Berg hinauf, in dem Glauben der Drache wohne in einer Höhle auf dem höchsten Hügel.
Der Drache.
Envin lacht kurz auf.
Vergiss den Drachen.
Nun komme ich.
»Ich bin der Drache!«
Sidus, der strahlende Stern, ist nicht mehr in der Lage die Nacht zu erhellen.
Wie ein betrunkener Storch streift er durch das Dunkel, stolpert orientierungslos über Äste und Wurzeln. Nur, dass er selbst der Meinung ist, er wäre auf dem richtigen Weg – wohin auch immer.
»Wo ist der Drache?«, murmelt er, während er sich im Schnee wälzt. Mit einem Sprung ist er wieder auf den Beinen. Dann rennt er zu einem Baum und schlägt ihm sämtliche Äste ab.
»Bist Du der Drache? Jee-hey-hei-i ---«
Nein. Es ist nicht der Drache. Irgendwann realisiert Sidus das und zieht weiter. Durch die Nacht.
Oft bleibt er stehen und dreht sich um, immer dann, wenn er das Gefühl hat, im Unterholz Stimmen zu hören. Doch da ist niemand. Als er an einen zugefrorenen See kommt, denn er zu Fuß zu überqueren versucht, und auf dem er mit dem Gesicht voller Schwung auf die Eisfläche niederschlägt, hat er einen Moment der Besinnung.
Für einige Augenblicke ist es, als könne er wieder klarer denken, so wie früher, bevor den
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