Wald
Held.
Soll doch alle Welt denken er sei verrückt. Envin und Llyle. Besser verrückt, als gar kein Held zu sein.
Den Griff seines Schwertes hält er fest umklammert. Der Kampf wird kommen. Wird kommen.
Er wühlt einen Stein aus dem Schnee hervor und zieht ihn über seine Klinge.
»Ritsch, ratsch, ritsch, ratsch ---«
Envin liegt erschöpft am Boden, hält sein Gesicht hinter beiden Händen versteckt, und beklagt sein kurzes Leben. Warum konnte er nicht gegen diese Reise aufbegehren? Warum konnte er Llyle niemals seine wahren Gefühle offenbaren? Wie soll er nur jemals aus diesem Gefängnis von Wald herausfinden? Ist er mit seinen einundzwanzig Jahren wirklich zum Tode verurteilt?
Nach einer Weile gehen ihm die Klagen aus und er erhebt sich.
Ziellos streift er durch die Dämmerung. Egal wohin er geht, verkehrt ist sowieso. Er lässt den Kopf hängen und übersieht dabei den herabhängenden Ast.
Ein Zweig schlägt ihm mitten in die obere Gesichtshälfte und schrammt über sein rechtes Auge. Als er erschrocken zurückweicht, ist es bereits zu spät. Zuerst realisiert er nicht, was passiert ist. Doch dann spürt Envin den unsäglichen Schmerz am Augapfel. Das Brennen ist von einem Moment zum nächsten so stark, dass er auf seine Knie fällt. Er hält das Auge fest, als hätte er Angst, dass es herausfallen würde.
Und er schreit.
Kreischt in die Tiefen des Waldes. Sein Brüllen wandert über Hügel, prallt an Felsen ab, gleitet durch Erdlöcher und verklingt doch ungehört im ewigen Nichts.
»Ritsch, ratsch, ritsch, ratsch ---«
»Dunkelheit«
Dunkelheit. Diese fürchterliche Dunkelheit.
Llyle ist aus ihren Träumen aufgeschreckt. Wie bereits in den Nächten zuvor. Und immer diese Dunkelheit. Sie steht auf, tastet sich durch den Raum, und entzündet eine Öllampe, die auf einem Hocker steht. Sie nimmt die Lampe in die Hand, wirft sich eine Decke über, um der Kälte zu trotzen, und begibt sich in den angrenzenden Raum, in dem es ein Fenster gibt. Sie tritt an die Luke in der Mauer heran, löst den Holzverschlag, der zum Verschließen eingesetzt ist, heraus und stellt ihn auf den Boden. Das Mondlicht, das zusätzlich zum Schein der Lampe in das Zimmer fällt, beruhigt sie.
Dann setzt sie sich auf einen Sessel und atmet tief durch. Sie fürchtet sich neuerdings, und vor der Dunkelheit fürchtet sie sich am meisten. Wieso, das weiß sie auch nicht, nein – doch eigentlich ahnt sie es, ist aber machtlos.
Erinnerungen an ihre Nachtvisionen steigen in ihr auf. Trugbilder von drohenden Phalli, die sich turmhoch über ihr aufbäumen. Gefolgt von der Erscheinung, in der sie auf dem Boden eines dunklen, kalten Raumes liegt, nackt. Und die Hände, Dutzende Hände, die überall über ihren Körper gleiten, ohne dass sie die dazugehörigen Menschen sehen kann. Sie versucht zu schreien, kann es aber nicht. An dieser Stelle wacht sie regelmäßig auf.
Sie schüttelt sich und wedelt mit der Lampe vor ihrem Kopf herum, um die unliebsamen Gäste aus ihrem Gedächtnis zu vertreiben. Dabei erlischt die Flamme.
Dunkelheit.
Nur noch der Mond, der den Raum in düsteres und kühles Licht taucht. Llyle steht auf, stellt sich direkt ans Fenster und starrt in die Nacht. Da sie nicht damit rechnet wieder Schlaf zu finden, steht sie lange dort. Sehr lange.
Die erste Regung zeigt ihr Körper, als eine Gestalt im Burghof auftaucht. Dem Gang nach ist es eine Frau. Llyle beugt sich ein Stück vor, um sie besser sehen zu können. Die Gestalt bleibt in der Mitte des Hofes am Brunnen stehen. Nun kann Llyle sie erkennen.
Miststück!, zischt sie, während die Dienstmagd ihre schwarzen Haarlocken löst und ihr Haupt schüttelt. Sie hat das Mädchen schon einmal nachts in der Nähe von Sidus beobachtet. Damals hat sie sich eingeredet, dass das nichts zu bedeuten habe. Das Sidus und die Magd sich nur unterhalten hätten.
Wie naiv sie doch war. Ein Ritter unterhält sich nicht mit einem Dienstmädchen. Ein Edelmann hat andere Intentionen.
Auf einmal taucht eine weitere Gestalt in der Szenerie auf. Llyle erkennt ihn zuerst nicht, da er nicht seine normale Arbeitskleidung trägt. Erst als sie ihn lachen hört, weiß sie, wer er ist. Der Hofnarr stürzt sich auf das Mädchen und küsst sie. Llyle sieht angewidert zu, kann ihren Blick aber auch nicht abwenden. Dann fängt sie an zu lachen, leise aber beständig. Sie lacht die Magd aus und die ganze Menschheit.
Sollen sie es doch alle miteinander treiben, bis sie grün und blau
Weitere Kostenlose Bücher