Walden Ein Leben mit der Natur
versichern, daß der Waldensee einen realen festen Grund in einer gar nicht unrealen, sondern bloß ungewöhnlichen Tiefe besitzt. Ich lotete sie bequem mit einer starken Angelschnur und einem etwa anderthalb Pfund schweren Stein und konnte genau feststellen, wann der Stein sich wieder vom Grund hob; denn ich mußte viel kräftiger ziehen, ehe das Wasser unter den Stein kam und mir half. Die größte Tiefe, die ich maß, machte genau
hundertundzwei Fuß aus. Das ist eine beträchtliche Tiefe für eine so kleine Fläche. Und doch möchte unsere Vorstellung nicht einen Zoll davon vermissen. Wie, wenn alle Seen seicht wären? Würde sich das nicht auch auf das Gemüt der
Menschen auswirken? Ich bin dankbar, daß dieser See, als ein Sinnbild, so tief und rein geschaffen wurde. Solange der Mensch an die Unendlichkeit glaubt, hält er manchen See für unergründlich.
Ein Fabrikbesitzer, der von meinen Messungen hörte, glaubte meinem Ergebnis nicht. Er kannte sich mit Dämmen aus und beharrte darauf, daß der Sand nicht in einem so steilen Winkel liegenbleibe. Doch die tiefsten Seen sind im Verhältnis zu ihrer Fläche gar nicht so tief, wie man annimmt, und würden, wenn trockengelegt, keine bemerkenswerten Senken hinterlassen.
Sie sind nicht wie der Einschnitt zwischen zwei Berggipfeln.
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Dieser hier, der so außergewöhnlich lief für seine geringe Fläche wirkt, erscheint im Querschnitt nicht tiefer als ein flacher Teller. Die meisten Seen würden ohne Wasser eine sanft
geschwungene Wiese freigeben, wie wir sie täglich sehen.
William Gilpin, der sich so bewundernswert und für gewöhnlich so genau mit Landschaften beschäf tigt, beschreibt Loch Fyne in Schottland als »eine Salzwasserbucht, sechzig oder siebzig Faden tief, von vier Meilen Breite« und rund fünfzig Meilen Länge, die von Bergen umgeben ist. Er bemerkt: »Hätten wir sie direkt nach dem eiszeitlichen Bersten sehen können, oder welcher Zuckung der Natur sie sonst entsprungen ist, bevor das Wasser hereinstürzte, welch schrecklicher Abgrund hätte sich vor uns aufgetan!«
»So hoch wie sich die aufgeworfnen Berge türmen, So tief nach unten sank der hohle Grund, Mächtiges Bett des Wassers -«
Vergleicht man aber den kürzesten Durchmesser von Loch
Fyne mit den Maßen des Waldensees, der schon, wie wir
gesehen haben, im Querschnitt nur wie ein flacher Teller wirkt, erscheint Loch Fyne viermal so flach. So viel zu den erhöhten Schrecken des trockengelegten Abgrunds von Loch Fyne.
Zweifellos wird mancher »schreckliche Abgrund«, dessen
Wasser versickert ist, von einem huldvollen Tal mit weiten Kornfeldern eingenommen, wenn es auch des Einblicks und Weitblicks des Geologen bedarf, die ahnungslosen
Landbewohner davon zu überzeugen. Hier und da erkennt der wißbegierige Beobachter die Ufer eines urzeitlichen Sees in den niedrigen Hügeln am Horizont, ohne daß sich die Ebene später hätte heben müssen, um ihre Geschichte zu verbergen.
Aber, wie der Straßenarbeiter weiß, ist es am einfachsten, die Senken an den Regenpfützen festzumachen. Das alles läuft darauf hinaus, daß die Phantasie, gesteht man ihr ein
Mindestmaß an Freiheit zu, tiefer taucht und höher fliegt als die Natur selbst. Wahrscheinlich ist die Tiefe des Ozeans im Vergleich mit seiner Weite genauso unbedeutend.
Indem ich durch die Eisdecke hindurch lotete, konnte ich die Beschaffenheit des Seegrunds genauer bestimmen, als dies in einem Hafen möglich wäre, der nicht zufriert. Die große
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Gleichmäßigkeit des Bodens überraschte mich. Sein tiefster Teil umfaßt eine mehrere Morgen große Fläche, die ebener ist als irgendein der Sonne, dem Wind und dem Pflug
ausgesetztes Feld. In einem Fall betrug der Unterschied auf einer beliebig gewählten Strecke nicht mehr als einen Fuß auf hundertfünfzig Yard; und gegen die Seemitte zu konnte ich den Tiefenunterschied nach jeder Richtung hin abschätzen: er betrug drei bis vier Zoll auf je einhundert Fuß. Man spricht gern von tiefen und gefährlichen Löchern, selbst in so ruhigen Gewässern mit Sandboden wie der Waldensee, doch gleicht das Wasser in diesen Fällen die Unebenheiten des Bodens aus. Die Regelmäßigkeit des Grundes, seine Übereinstimmung mit den Ufern und mit der Lage der umgebenden Hügel war so vollendet, daß ein entferntes Vorgebirge sich IHM den Vermessungen quer durch den See verfolgen ließ. Seine
Richtung konnte durch die Beobachtung des
gegenüberliegenden Ufers bestimmt
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