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Walden Ein Leben mit der Natur

Walden Ein Leben mit der Natur

Titel: Walden Ein Leben mit der Natur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry David Thoreau
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    niederzulassen. Er griff nach der Flinte und sprang hastig und aufgeregt auf; doch zu seiner Überraschung sah er, daß, während er dort gelegen hatte, die ganze Eisfläche auf das Ufer zugetrieben war. Das Geräusch, das er gehört hatte, rührte von dem Knirschen seiner Kanten auf dem Ufer her - erst nur ein sanftes Nagen und Bröckeln, doch schließlich ein Stampfen und Krachen, als sich seine Trümmer auf dem Ufer in einer gewaltigen Höhe zusammenschoben, bevor es schließlich zum Stillstand kam.
    Endlich haben die Sonnenstrahlen den richtigen Winkel
    erreicht, wärmere Winde fegen Regen und Nebel davon und schmelzen die Schneehaufen. Die Sonne vertreibt den Dunst und lächelt auf die braunweiß gescheckte, wie von Weihrauch dampfende Landschaft nieder, durch die der Wanderer von Insel zu Insel springt, ermuntert durch das Konzert Tausender rieselnder Rinnsale und Bächlein, angefüllt mit dem Blut des Winters, das sie davontragen. Selten entzückte mich eine
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    Naturerscheinung mehr als die Beobachtung der Formen, die der tauende Sand und Lehm annimmt, wenn er an den
    Böschungen eines tiefen Geländeeinschnitts der Eisenbahn herabfließt, an dem ich auf meinem Weg zum Ort vorbeikam.
    Man sieht diese Erscheinung in solchem Ausmaß nicht häufig, obwohl sich die Zahl frisch aufgeworfener Dämme aus dem gleichen Material seit der Erfindung der Eisenbahn er heblich vermehrt haben muß. Das Material war Sand in allen
    Feinheitsgraden und von mannigfaltiger prächtiger Farbe, dem gewöhnlich ein wenig Lehm beigemischt ist. Wenn die Kälte im Frühling nachläßt, und selbst an lauen Wintertagen, beginnt der Sand wie Lava die Hänge herunterzufließen, durchbricht
    stellenweise den Schnee und überflutet ihn. Eine Anzahl kleiner Bäche, die einander überspringen und durchkreuzen, bringen hier ein hybrides Produkt zustande, das zum Teil dem Gesetz der Strömung, zum Teil dem der Vegetation gehorcht. Im
    Fließen nimmt es die Gestalt saftiger Blätter und Ranken an, bildet eine Menge etwa fußdicker breiiger Verästelungen, die den ausgefransten, gelappten, schuppigen Thallis mancher Flechten ähneln. Auch an Korallen, Vogelfüße und
    Leopardenpranken erinnerten seine Formen, an Hirn, Lunge, Gedärme und anderes Gekröse. Eine wahrhaft groteske
    Vegetation, deren Formen man oft in Bronze nachgeahmt
    findet, eine Art architektonisches Blattwerk, das älter und typischer war als Akanthus, Zichorie, Efeu und Wein; vielleicht war es dazu bestimmt, unter gewissen Umständen den
    Geologen zukünftiger Generationen Rätsel aufzugeben. Der ganze Geländeeinschnitt machte auf mich den Eindruck einer vom Tageslicht überfluteten Tropfsteinhöhle. Die vielerlei Schattierungen des Sandes sind aufteilend reich und
    ansprechend. Sie umfassen alle Farbtöne des Eisens: braun, grau, gelblich und rötlich. Wo die im Fluß befindliche Masse den Graben am Fuß des Dammes erreicht, läuft sie in flachere Strähnen aus. Die einzelnen Arme verlieren ihre
    halbzylindrische Form und werden flacher und breiter, gehen ineinander über, da sie feuchter sind, bis sie eine flache Sandschicht von gleich prächtiger, vielfältiger Farbgebung bilden, in der sich die Spuren ursprünglicher Pflanzenformen
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    verfolgen lassen. Im Wasser verwandeln sie sich schließlich zu Sandbänken, wie man sie an Flußmündungen findet, und die Pflanzenformen verlieren sich im Wellenmuster des Grundes.
    Die ganze Böschung, die zu einer Höhe von zwanzig bis vierzig Fuß ansteigt, ist oft auf einer, manchmal auf beiden Seiten bis zu einer Viertelmeile Länge mit Massen dieses Blattwerks bedeckt, dem Ergebnis eines einzigen Frühlingstages. Was dieses »Sandlaub« auffällig macht, ist die Plötzlichkeit seiner Entfaltung. Wenn ich auf der einen Seite die Böschung so
    »passiv« daliegen sehe - denn die Sonne bescheint zuerst die eine Seite - und auf der anderen dieses üppige Blattwerk, die Schöpfung einer einzigen Stunde, dann ist mir so seltsam zumute, als stände ich in der Werkstatt des Künstlers, der die Welt und mich erschuf - sähe ihn in dem Augenblick am Werk, da er die Böschung spielend schafft und in einem Übermaß an Kraft neue Ornamente darauf verschwendet. Mir ist, als ob ich den Eingeweiden des Erdballs näher sei, denn die Sandflut erinnert in ihrer Verzweigtheit an die Eingeweide eines fleischlichen Körpers. So läßt sich selbst im Sande eine Vorstufe des Pflanzenblatts erkennen. Kein Wunder, daß sich die Erde nach

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